Kann die Förderung der auditiven Wahrnehmung in Bezug auf die Schriftsprachaneignung obsolet sein?
Praxis Sprache, Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik. Sprachtherapie und Sprachförderung (dgs). 58, 3,2ß13, 197
Die auditive Wahrnehmungsförderung ist noch kein Garant für eine problemlose Aneignung der deutschen Schriftsprache, denn eine isolierte Förderung der auditiven Wahrnehmung reicht nicht aus, damit sich Kinder die komplexen Strukturen der deutschen Schriftsprache aneignen können.
In einer aktuellen Untersuchung fanden Steinbrink u. a. (2011) heraus, dass die Differenzierungsprobe nach Breuer/Weuffen kaum Vorhersagekraft für den Erfolg bei der Schriftsprachaneignung hat. Wie Spitzer (2011) anmahnt, ist es unerlässlich, die Wirksamkeit von Erhebungsverfahren zu eruieren. Ebenso müssen Förder- und Therapiemaßnahmen analysiert werden. Er fordert, dass die qualitative Forschung in der Pädagogik schnell aus ihren Kinderschuhen herauskommen muss.
Nach Valtin (2010) belegen neuere Untersuchungen , dass eine isolierte Förderung der phonologischen Bewusstheit keinen Nutzen für die Förderung der Schriftsprache erbringt. Hierzu bedarf es einer umfassenden sprachlichen Förderung. Valtin weist der phonologischen Bewusstheit, die unmittelbar mit der Schriftsprachaneignung einsetzen sollte, dabei in der frühen Lernphase des Schriftsprachaneignung eine wichtige Rolle zu: „Phonologische Bewusstheit erweist sich als Komponente der Sprachbewusstheit, wobei eine Differenzierung in drei Aspekte nötig ist:
1. Silbensegmentierung und Reimerkennung als Fähigkeit der Vergegenständlichung von Sprache
2. Wortkonzept und grammatische Kompetenz
3. Lautanalyse und -synthese als kognitive Fähigkeit des Erkennens und des Umgangs mit Phonemen“ (Valtin, 2010, 9).
Es gibt eine Reihe bewährter Programmen zur Förderung der auditiven Wahrnehmung, wie z.B. das Würzburger Training „Hören Lauschen Lernen“, das bereits in fünfter Auflage erschienen ist und dessen Evaluation die Wirksamkeit zur frühen Prävention der Lese-Rechtschreibschwäche gezeigt hat (vgl. Schneider & Küspert 2006). Allerdings bedarf es zur Aneignung der deutschen Schriftsprache neben den phonographischen auch morphematische Strategien. Da diese Prinzipien zudem häufig durchkreuzt werden, ist das Merken von Ausnahmen mit dem Aufbau eines direkten lexikalischen Speichers ebenfalls entscheidend für eine erfolgreiche Schriftsprachaneignung. Zudem reicht das deklaratorische Wissen über Sprache allein nicht aus, vielmehr müssen Schüler durch Sprachroutinen und eine innere Regelbildung, ein prozedurales Sprachbewusstsein entwickeln (vgl. Eichler, 2007).
Wenn auch die Vorhersagekraft der Differenzierungsprobe in Frage gestellt wird, so heißt dies noch lange nicht, dass eine Wahrnehmungsförderung obsolet sei. Vielmehr ist die Förderung der auditiven Wahrnehmung gerade im Elementarbereich und in der ersten Phase des Schriftspracherwerbs als eine vorbereitende Schulung zu empfehlen, insbesondere, wenn sie in den Kindergartenalltag integriert wird (vgl. Zellerhoff, 2011). Empfehlenswert ist hier das aktuelle Buch von Braun und Steiner (2012), die neue Standards für eine effektive sprachliche Förderung aufstellen: „Spracherwerb wird durch sinnliche Erkenntnisfähigkeit geprägt, die Kommunikationsanlässe müssen authentisch, alltagsnah und für das Kind bedeutungsvoll sein. Isolierte, hoch strukturierte und auf Defizite sowie Schwächen ausgerichtete Sprachförderprogramme sind der Sache nicht dienlich“ (Braun & Steiner 2012, 108). Sie ermutigen dazu, Kommunikationsanlässe zu schaffen, in denen differenziertes, individualisiertes Lernen umgesetzt werden kann. Als besonders hilfreich erachte ich hier die beigefügte DVD[AH1] , in der die Prinzipien einer altersgerechten Vorgehensweise vorgestellt werden, sodass sie auch in den Erziehungsalltag des Elternhauses übertragen werden können.
Bei den neuen multimedialen Programmen „Hör-Fink“ (Bergmann u. a. , 2006) und „Wuppis Abenteuer“ (Christiansen 2008) sind die Übungen zur phonologischen Bewusstheit in Geschichten eingebettet und können somit gleichzeitig die Literacy-Erfahrungen der Kinder erweitern.
Es wird zu überprüfen sein, ob und in welcher Weise sich die frühe Einbettung von Wahrnehmungsübungen in den Kindergartenalltag auf (schrift-)sprachliche Lernprozesse auswirken wird.
Literatur:
Bergmann, K., Burkandt, L. & Petrich, B. (2006): Hör-Fink: Programm zur Förderung der auditiven Wahrnehmung, Oberursel: Finken-Verlag
Braun, W. G. & Steiner, J. (2012): Prävention und Gesundheitsförderung in der Sprachentwicklung, München: Reinhardt.
Christiansen, Chr. (2008): Wuppis Abenteuerreise durch die phonologische Bewusstheit, Oberursel: Finken Verlag.
Eichler, W. (2007): Prozedurale Sprachbewusstheit, ein neuer Begriff für die Lehr-Lernforschung und didaktische Strukturierung in der Muttersprachdidaktik In: Siebert-Ott, Hug, M. (Hrsg.).: Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit (10-31) Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Schneider, W. & Küspert, P. (2006): Frühe Prävention der Lese-Rechtschreib-Störung. In: von Suchodoletz, W. (Hrsg.): Therapie der Lese-Rechtschreibstörung (LRS) (111-134), 2. überarb. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer.
Spitzer, M. (2011): Sprachtests haben kaum Vorhersagekraft: http://idw-online.de/pages/de/news403904 (Abruf am 12.01.2011)
Steinbrink, C., Klatte, M., Lachmann, T. & Schwanda, S. (2011): Sagen Wahrnehmungsleistungen zu Beginn der Schulzeit den Lese-Rechtschreiberfolg in Klasse 1 und 2 voraus? Zur prognostischen Validität der Differenzierungsprobe 1 und 2 nach Breuer und Weuffen (181-200). Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 42 (2).
Valtin, R. (2010): Phonologische Bewusstheit. Eine notwendige Voraussetzung beim Lesen- und Schreibenlernen? (4-10). L.O.G.O.S. INTERDISZIPLINÄR, 1/2010.
Zellerhoff, Rita. (2011): „Diagnostik bei Mehrsprachigkeit als Prozess“. In: Bräu, K., Carle, U. & Kunze, I. (Hrsg.): Differenzierung, Integration, Inklusion. Was können wir vom Umgang mit Heterogenität an Kindergärten und Schulen in Südtirol lernen? (215-233) Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.