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Rezension Ulla Beushausen (Hg.)(2020): Therapeutische Entscheidungsfindung in der Sprachtherapie. Grundlagen und 15 Fallbeispiele. München, Reinhardt, 1. Auflage

Das aktuell im Reinhardt Verlag in München erschienene Buch hat den selben Titel wie das 2009 bei Elsvier in München erschienene Buch der Herausgeberin.

Auf Nachfrage erklärte Frau Beushausen: „Der neue Verlag hat sich nach dem Verlagswechsel entschieden, es als Erstausgabe zu deklarieren, weil nicht nur eine vollständige Überarbeitung stattgefunden hat, auch wurden sieben neue Autoren aufgenommen und drei Fallbeispiele von den an der ersten Auflage beteiligten Autoren gänzlich neu erstellt.“ Ich werde dies jeweils bei den Texten vermerken.

Prof. Dr. Ulla Beushausen hat einen Lehrstuhl an der HAWK in Hildesheim inne.

Die Therapeutische Entscheidungsfindung ist in ihrem Forschungsprofil aufgeführt.

Beushausen hat sich durch Veröffentlichungen zu Grundlagen von Dysphonien im Kindesalter und zur evidenzbasierten Stimmtherapie einen Namen gemacht.

Das vorliegende Buch stellt ein Kompendium dar, in dem nun eine Vielzahl logopädischer Handlungsfelder aus der Sicht ausgewiesener Fachvertreterinnen und Fachvertreter auf ihre Evidenz hin untersucht werden. Die grundlegenden Erwägungen werden durch fünfzehn Fallbeispiele veranschaulicht.

Ich werde insbesondere die Einleitung der Herausgeberin erörtern, aber nicht alle Fallbeispiele ausführlich besprechen, sondern nur die Beiträge, zu denen ich im Studium

und in meiner beruflichen Tätigkeit als Sprecherzieherin, als Sprachheilpädagogin im Hochschuldienst und als Fachleiterin am Studienseminar Erkenntnisse gewinnen und Erfahrungen sammeln konnte. Die Fallbeispiele 10, 13, 14, und 15 werde ich daher nur kursorisch besprechen.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Zunächst liefert die Herausgeberin in vier Kapiteln

eine ausführliche theoretische Einordnung. Dieser Teil ist vollkomen neu überarbeitet. In Grundlagen der therapeutischen Entscheidungsfindung gibt sie eine übersichtliche Darstellung des Clinical Reasoning und fächert die Basiselemente der therapeutischen Entscheidungsfindung dezidiert auf. Sie zeichnet den Entstehungsprozess des Clinical Reasonings nach. Mit der Erforschung des impliziten Clinical Reasoning komme dem Erfahrungswissen aktuelle Bedeutung zu.

Die kognitive Wende der Verhaltensforschung habe dazu geführt, dass Denkprozesse in den Blick kamen. Untersucht worden sei, wie diese bei Experten im Gegensatz zu Anfängern zum Tragen kämen. Beushausen zählt die Basiselemente der therapeutischen Entscheidungsfin-dung auf. Die Wechselwirkung von Kognition und Wissen, von Metakognition und pro-blemlösenden Denken stellt sie in einer Abbildung anschaulich dar. Ihre ausführlichen Erläuterungen zu prozeduralem, therapeutischem und handwerklichem und personalem Wissen sowie zu Fachwissen und „stillem“ Wissen münden in eine Theorie der klinischen  Expertise in der Logopädie/Sprachtheorie.

Diese setzt sich zusammen aus:

  • „Fachkenntnissen in der Diagnose und Therapie
  • einer wissenschaftlichen Grundhaltung
  • analytischen Fähigkeiten zur Lösung (klinischer) Probleme und
  • geschulten Persönlichkeitsmerkmalen zum adäquaten Umgang
  • mit (chronisch) erkrankten Personen.“ (21)

Die wissenschaftliche Grundhaltung professionell handelnder Logopädinnen uns Logopäden sollte auf einem kritisch hinterfragenden Berufsethos beruhen.

Beushausen schildert ausführlich die enge Verwobenheit von Kognition und Wahrnehmung, welche die therapeutische Entscheidungsfindung beeinflussen könne. Zum einen beschreibt sie die Flüchtigkeit des Wahrnehmungsprozesses und des weiteren die Elemente der Selektion und Projektion sowie fünfzehn Wahrnehmungseffekte, -tendenzen und  -fehler. Sie veran-schaulicht die Tendenz der sozialen Erwünschtheit an einem Beispiel. Damit zeigt sie, dass durch die gelenkte Aufmerksamkeit eine gezielte Beobachtung durchgeführt werden kann,

die dadurch verbalisierbar wird. Die kontinuierliche Reflexion wertet die Autorin als von besonderer, wenn nicht zentraler Bedeutung, für das professionelle Handeln.

Nach Jones (1998) schlägt sie vor:

  • „Bewusstmachung der Denkvorgänge
  • Berücksichtigung der Störungserfahrung des Patienten
  • gemeinsame Entscheidungsfindung
  • Bewusstmachung von Denkfehlern
  • verstärkte Hypothesenüberprüfung
  • Wissensvermehrung und Verbesserung der Wissensorganisation
  • Reflexion und divergentes Lernen.“ (25)

Beushausen führt generelle Strategien beim Clinical Reasoning auf. Hier schaffen die beiden Abbildungen des hypothetisch-deduktiver Vorgehens und des Ablaufs der Mustererkennung einen guten Überblick. Durch anschauliche Beispiele zum prozeduralen, interaktiven, progno-stischen, zum ethischen/pragmatischen und zum didaktischen Reasoning prägt sich der erläu-ternde Text ein. Beispielhaft soll hier die Bandbreite der Überlegungen am Beispiel des di-daktischen Reasoning aufgezeigt werden. Die Didaktik wird als Wissenschaft beschrieben,

„ … die sich um das für Lernende wirksame Lehren beschäftigt.“ (34) Terminologisch werden nach Wolfs (2018) die Bezeichnung Anschlussfähigkeit, Differenzerfahrung, Pertubation, Relevanz und Viabilität erläutert. Dazu zeigt Beushausen didaktische Prinzipien auf, wie

der Assoziation, der Konditionierung, der positiven Verstärkung, der Imitation, der Einsicht, des Behaltens und des Lehrens und Lernens. Ein Beispiel veranschaulicht jeweils das didaktische Vorgehen. Mit dem narrativen Reasoning schließt das erste Kapitel ab. Dazu schlägt die Autorin eine Vielzahl von Methoden des klinischen Denkens vor.

Im zweiten Kapitel VON DER ANFÄNGERIN ZUR EXPERTIN schildert Beushausen

den Entwicklungsprozess zur Erlangung von Expertise. Dazu bedarf es „…interpersonelle, professionelle, problemlösende und technische Fähigkeiten sowie die Fähigkeit zur Integration von Wissen und Erfahrung.“ (43) (Hervorhebung daselbst)

Beushausen stellt das Modell der klinischen Fähigkeiten nach Guilford et al. (2007) und die fünf Fähigkeitsprofile nach Dreyfus und Dreyfus vor sowie die Stadien der beruflichen Weiterentwicklung nach Jacobs (2003) und zeigt die Entwicklung  vom vorprofessionellen Therapeuten über den Novizen, dem kompetenten Therapeuten, dem erfahrenen Nichtexper-ten zum Experten auf. Die Entscheidungsfindung von Anfängern oder Novizen und einem Experten sind sehr unterschiedlich, wie Beushausen  in einer Tabelle nach Klemme/Siegmann aufweist. Die Experten zeichnen sich demnach durch effektivere und schnellere Denkprozesse aus, die vernetzt, flexibel und kritisch sind, während Anfänger zeitaufwendig noch auf eine Schritt-für-Schritt-Strategie beim Problemlösen angewiesen seien. Auch die Grundelemente des Wissens, der Metakognition und der Strategien gelingen dem Experten effizienter als dem Anfänger. Die Autorin führt eine Reihe von Autoren an, die belegen, dass Experten verschie-dene Formen des Clinical Reasonings gleichzeitig einsetzen und sich in der Interaktion mit den Patienten verständnisvoller und empathischer zeigen und die persönliche Geschichte und das Krankheitserleben in der Behandlungsplanung umfassender berücksichtigen. (vgl. 50f.)

Das dritte Kapitel Entscheidungen im therapeutischen Prozess hat Beushausen  zusammen mit Wenke Walther verfasst. Die Autorinnen beschreiben die Prozesse, die nach dem Erst-kontakt zwischen Therapeut und Klient in Gang gesetzt werden. Die gängigen Diagnostik-verfahren werden vorgestellt und es wird eine Checkliste für Testanwenderinnen nach Beushausen/Grötzbach (2011) als Entscheidungshilfe angeboten. Neben den Gütekriterien wird auch die Frage nach der Ökonomie des Testes und seiner Relevanz für die Therapie gestellt. Der Therapieprozess wird in der üblichen Abfolge von Indikation und Zielsetzung unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen der Therapie beschrieben.  Es wird der Rehab-Cycle nach ewert@al vorgestellt, mit dem der Zusammenhang zwischen der Ziel-setzung in der Sprachtherapie und einer systematischen Diagnostik und Evaluation verdeut-licht wird.

Dabei wird der Flexibilität des Therapeuten besondere Beachtung geschenkt. Für die Beendi-gung der Therapie werden Kriterien genannt, die sowohl auf den Therapeuten als auch auf den Klienten bezogen sind. Der Beratungsprozess wird als ein Problemlöseprozess beschrie-ben, der durch die Beteiligung der Ratsuchenden unterstützt wird. Die Autorinnen stellen eine Tabelle vor, in der die Phasen und Inhalte  systematisch aufgelistet sind. Des weiteren beschreiben sie den Austausch zwischen Therapeuten unterschiedlicher Berufserfahrung als ein effektives Mittel zur Bewusstmachung von Clinical-Reasoning-Prozessen. Schließlich erklären sie die Wichtigkeit der Dokumentation von Therapieverläufen für die Qualitäts-sicherung. Neben dem Prozeduralen und dem Konditionalen Reasoning können zusätzlich Parameter des Interaktiven Reasonings aufgenommen werden. Mit einem Evaluationszirkel soll die  Wirksamkeit der Therapie dokumentiert werden.

In einem Modell zur therapeutischen Entscheidungsfindung geht es um die Schnittmenge einer gemeinsamen Wissensbasis vor dem sozio-kulturellen Hintergrund, in das die Therapeu-tin ihren fachspezifischen Informationsstand und die Klientin ihren problemspezifischen Informationsstand einbringen. Diese Wissensbestände werden durch die Vorhaltung von therapeutischen Settings und durch das Therapiemanagement beeinflusst. Anzustreben ist

eine partizipative Entscheidungsfindung, in der sich Therapeut und Patient über das Ziel, die Methode und die Dauer der Therapie einigen.

Das vierte Kapitel Entscheidungshilfen ist von Beushausen verfasst. Die Entscheidungshil-fen haben zum Ziel die Effizienz der Sprachtherapie zu steigern. Dies ist möglich durch die Verknüpfung dreier Faktoren: 1. der Therapeut mit seinen Fähigkeiten und Erfahrungen,

  1. der Patient mit seinen individuellen Erfahrungen und Präferenzen und 3. die externe Evidenz, die aus Studien gewonnen wurde, wie z.B. aus Übersichtsarbeiten von randomi-sierten kontrollierten Studien. Dieser „Goldstandard“ wird z.B. von der Cochrane Collobo-ration erreicht, die weltweit vernetzt ist und systematisch Reviews von randomisiert kontrol-lierten Studien auf einer Datenbank veröffentlicht.

Anmerkung: Die ursprünglich von dem englischen Epidemiologen Cochrane für die Medizin entwickelte Datenbank  ist z. B. in NRW für die Mitglieder der Ärztekammer Nordrhein zugänglich..

Mit Bezug auf Dollaghan, 2007 fordert Beushausen eine evidenzbasierte Therapie, in der alle drei Faktoren berücksichtigt werden und für die das Kürzel E3BP geprägt wurde. Diese Wis-sensmanagementmethode erfordert eine Selbstverpflichtung auf hohem professionelle Stan-dards mit dem Ziel Patienten möglichst optimal zu versorgen. Beushausen verweist diesbe-züglich auf die Sozialgesetzgebung, welche in ihren Leitlinien fordert, dass die beste Evidenz mit anderen Erkenntnissen kombiniert werden sollte. In einer Tabelle werden mögliche Inhal-te sprachtherapeutischer Leitlinien nach Wieck et al. (2005) vorgestellt.

In Abschnitt 4.2 weist die Autorin auf den Paradigmenwechsel in der Rehabilitationswissen-schaft hin, der in der Entwicklung eines Instrumentes zur Einschätzung für die Funktions-fähigkeit im Kontext der Gesundheit durch die WHO entwickelt wurde: die „International Classification of Functioning and Health (ICF)“.

Indem die ICF nicht nur Zustände in Bezug auf Körper und Geist beachtet, sondern die Akti-vitäten einer Person berücksichtigt und ihre Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft sowie Einflüsse aus der Umwelt beschreibbar macht, können Einschränkungen auf die beson-deren Lebensumstände der betroffenen Person berücksichtigt werden. So können auch Funk-tionsstörungen der Stimme, des Sprechens und der Sprache, des Hörens und des Schluckens klassifiziert werden. In einer Graphik  (Ab. 4.4)  zeigt die Autorin die Dimensionen und Wechselwirkungen der ICF auf.

Beachtung findet auch die besondere Situation der Kinder, die in der ICF-children and youth (ICF-CY) berücksichtigt wird. Bezüglich der Sprachstörungen wurden dabei entsprechende Codes modifiziert.

Anmerkung: Roswitha Romonath (Universität zu Köln) hat sich intensiv für die Ausdiffe-renzierung der ICF-CY in Bezug auf sprachliche Prozesse, z. B. auf Verzögerungen der Sprachentwicklung engagiert. (vgl. Romonath 2012)

Im folgenden beschreibt die Autorin Prozesse der Krankheitsbewältigung. Hierzu führt sie die Ereigniseinschätzung, die Ressourceneinschätzung und die Stressbewältigung (Coping) an. Die Strategien des emotionsregulierenden und des problemorientierten Copings führt sie detailliert aus und zeigt tabellarisch Bewältigungsmechanismen auf.

Zu einer Auswahl von Reaktionen werden mögliche zugrundeliegende Kognitionen benannt.

Mit dem Transtheoretischen Modell wird postuliert, dass zu einer Verhaltensänderung eine bestimmte Abfolge verschiedener Stadien durchlaufen werden muss:

nach der Phase der Absichtslosigkeit sind dies die Phasen der Absichtsbildung, der Vorberei-tung, der Handlung, der Aufrechterhaltung und der Stabilisierung. Hierbei sollen Konstrukte der Entscheidungsbalance und der Selbstwirksamkeit eine Rolle spielen. In der Sprachthera-pie kann durch die Steigerung des Schwierigkeitsgrades die Selbstwirksamkeitserwartung des Klienten gesteigert werden, vgl. Kapitel 15. Dabei ist von großer Relevanz realistische Ziele festzulegen, vgl. Kap 13.

Der letzte Abschnitt dieses Kapitels handelt von der partizipativen Entscheidungsfindung, bei der Klient und Therapeut zu einer gemeinsam verantworteten Übereinkunft kommen. Hierbei kann ein formaler Vertrag helfen eine bewusste und geklärte Arbeitsbeziehug und Rollenver-teilung abzuschließen. Auf ausdrücklichen Wunsch wäre es jedoch auch möglich diesen Ver-trag zu verändern.

Aus dem Projektmanagement wurde die Smart – Regel übernommen,

Specific

Measurable

Achievable

Relevant

Timed

ein Akronym, das auch auf den sprachtherapeutischen Kontext übertragen werden kann,

um die Therapieziele für Klienten genau, messbar, erreichbar, bedeutsam und zeitlich defi-niert zu bestimmen, vgl. Kap. 6 und 13. Des weiteren kommen Zielerreichungsskalen zum Einsatz, vgl. Kapitel 13 und 15.

Die Sprachtherapie richtet sich an den Patientenbedürfnissen aus. Das erfordert, dass die Sichtweisen des Klienten und des Therapeuten in eine kooperative Konzeption überführt werden. Gemeinsame Zieldefinitionen sind wichtig, um die gewonnenen Kompetenzen aus der Therapiesituation in den Alltag zu übertragen. In der Beziehung zwischen Therapeut und Patient spielt vor allem die Kommunikation eine entscheidende Rolle für die Zufriedenheit der Patienten. Ferner sind wichtig: Information und Instruktion, die emotionale Unterstüt-zung, die Koordination, die Rücksicht auf Patientenpräferenzen, Respekt und leibliches Wohlbefinden. (in Anlehnung an Dehn-Hindenberg, 2008)

In den nun folgenden Fallbeispielen werden die genannten Prinzipien in der Therapiege-staltung eingesetzt. Die Beiträge sind etwa zehn bis fünfzehn Seiten lang.

5. Therapeutische Entscheidungsfindung bei Sprachentwicklungsstörungen (SES) von Wenke Walther

Wenke Walther arbeitet als Lehrlogopädin an der Logopädieschule der medizinischen Hoch-schule Hannover. Ihr Fallbeispiel wurde neu in das Buch aufgenommen.

Walther berichtet über den Therapieprozess des 3;5 jährigen Jungen Y., der von den Eltern zusammen mit seinem eineiigen Zwillingsbruder vorgestellt wurde. Auffällig war eine stark verzögerte Sprachentwicklung und eine eigene Sprache, mit der sich Y. mit seinem Zwillings-bruder verständigen konnte, die aber für die Eltern nicht zu verstehen war. Außerdem hatten die Eltern den Wunsch, ihre Kinder schon früh mit der Fremdsprache Englisch vertraut zu machen. Dazu setzten sie zu Hause Zeiten fest, in denen sie mit den Kindern Englisch spra-chen. Auch in der Kita hatte Y. Gelegenheit mit einer Nativ-Speaker-Erzieherin und mit einem ebenfalls englisch sprechenden Freund sich in der frühen Fremdsprache zu verständi-gen.

Bei der Frage an den Therapeuten: Kannten Sie das Phänomen der Zwillingssprache? war ich doch sehr überrascht, dass dieses Phänomen offensichtlich in der Ausbildung der Therapeutin ausgespart wurde. Hier möchte ich auf die Klassiker der kulturhistorischen  Schule verweisen: Lurija und Judowitsch (1970):  Zur „Funktion der Sprache in der geistigen Entwicklung des Kindes“. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik ist an der Universität des Saar-landes erfolgt und im Grin-Verlag als Rezension des Standardwerkes erschienen (vgl. Abel, 2014).

Walther hat sich zur Frage in der Literatur kundig gemacht und wesentliche Faktoren der Zwillingssprache und ihrer Ursachen herausgefunden:

  • Zeitmangel der Eltern, da sie mehr Zeit für die Pflege der Kinder benötigen,
  • Inensivere Interaktion zwischen den Zwillingen
  • Konkurieren der Kinder um die Aufmerksamkeit der Eltern, was zu schnellerem Sprechen mit dem Auslassen von Lauten, Silben und Pronomen führen kann.

Die Eigensprache der Kinder als Neologismen zu bezeichnen ist jedoch nicht korrekt, da ihre Wortschöpfungen ja nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen. Den Terminus „kryptische Sprache“ würde ich hier vorziehen. Dass die für Außenstehende kryptischen Äußerungen für die Zwillinge jedoch eine feststehende Bedeutung haben, kann vorausgesetzt werden, wenn man bedenkt, dass sie ja damit eine umfangreiche Konversation betreiben konnten. Allerdings konnte diese nicht von den Erwachsenen verstanden und deshalb auch nicht gewertet werden.

Walther bezog bei ihrer Entscheidung des Untersuchungsplanes die Aussagen der Mutter mit ein und entschied sich zunächst gegen einen normierten Test, da dieser wegen der geringen Sprachkenntnisse des Kindes nicht hinreichend aussagekräftig sein könnte. Das Entwick-lungsprofil nach Zollinger konnte ihr mehr über die Ressourcen des Kindes und seine Mög-lichkeiten zur Teilhabe am Kindergartenalltag vermitteln, außerdem hätte es Hinweise auf mögliche weitere Entwicklungsstörungen geben können. Das Ergebnis der Untersuchung wies jedoch auf eine altersgemäße Entwicklung des Kindes hin. Eine Ausnahme bestand in der sozial-kommunikativen Kompetenz, da Y. auf sich selbst noch nicht mit dem Pronomen „ich“, sondern mit seinem Vornamen referenziert.

Walther begründet überzeugend, weshalb sie zur Überprüfung der Sprachentwicklung des Kindes nicht den SETK 3-5 einsetzte, denn die starke sprachliche Verzögerung hätte unwei-gerlich zum Abbruch des Verfahrens geführt. Mit der Durchführung des SETK 2 erzielte sie Ergebnisse, die sie extrapolieren konnte, denn wie sie betont, wollte sie wissen, was das Kind kann, und nicht, was es noch nicht kann. Die Autorin begründete ihre Therapieplanung nach-vollziehbar mit der Anschlussfähigkeit an das sprachliche Können des Kindes. Dabei hatte die Beratung der Eltern einen hohen Stellenwert, denen sie vorschlug die mehrsprachige Förde-rung nach dem Prinzip One-Person-One-Language durchzuführen. Auf die Frage, ob dieses Prinzip dem Goldstandard entspräche, gäbe es jedoch noch keine ausreichende Antwort in der Forschung.

Anmerkung: Es gibt seit langem das entgegengesetzte Prinzip der Quersprachigkeit, welches auch in aktuellen Publikationen vertreten wird (vgl. Montanari, Panapopoulou, 2019)

Die Therapeutin bot der Mutter die Möglichkeit zu hospitieren an und stellte ihr Beobach-tungsaufgaben, die diese schnell umsetzen konnte und zwar bei beiden Kindern. Eine Zwi-schendiagnose mit dem SETK 3-5 nach Grimm erbrachte vier Monate nach Therapiebeginn Werte, die noch unter der Norm lagen, jedoch eine deutliche Verbesserung aufwiesen.

Prognostisch sah Walther einen weiteren hohen Therapiebedarf, der möglicherweise bis zum Schuleintritt andauern werde.

6. Therapeutische Entscheidungsfindung bei Aussprachestörungenvon Annette Fox-Boyer

Die Logopädin Fox-Boyer arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Ergo-therapie/Logopädie an der Universität zu Lübeck. Sie hat zu dem Themenkomplex ein Hand-buch verfasst und Testverfahren entwickelt.

Die Autorin geht in Ihrem Beitrag dezidiert auf die International Classification of Functioning ein und verweist auf McLeod (2006), die ein Core-Set der relevanten Codes für Kinder mit Aussprachestörungen auf der International Classification of Disability and Health (ICF-CY) erstellt hat.

Fox-Boyer berichtet von Lukas, einem 4;1-jährigen Jungen, der von seiner Mutter wegen einer Aussprachestörung vorgestellt wurde: Lukas könne verschiedene Laute nicht oder nur manchmal aussprechen, weshalb er in seiner Kommunikation eingeschränkt sei, ansonsten sei seine Sprache unauffällig.

In die therapeutischen Überlegungen zu den Ursachen der Störung wurden einbezogen:

  • Körperstrukturen – häufiger Schnupfen als möglicher Verursacher von Paukenergüssen
  • Körperfunktionen – Artikulationsfunktionen
  • Einschränkung von Aktivität und Partizipation – für Außenstehende schwer verständliche Sprache, die bei Lukas jedoch nicht zum Kontaktabbruch führe
  • Umweltfaktoren – Förderndes Engagement der Eltern, Regelkindergarten
  • Elternberatung – Schuldgefühle wegen einer möglichen genetischen Komponente bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche des Vaters
  • Persönliche Faktoren – kontaktfreudiges Kind, ohne Störungsbewusstsein.

Die Autorin hat mit PLAKSS-II ein Instrumentarium entwickelt, mit dem sie die Prozesse der Artikulationsentwicklung und ihrer Störungen präzise identifizieren kann.

Eine Erstuntersuchung mit PLAKSS-II zeigte neben altersgemäß entwickelten Prozessen auch verzögerte physiologische Prozesse und pathologische Prozesse und eine Vielzahl phonolo-gischer Einzelabweichungen, die auf eine phonologische Störung hinwiesen. Nach dem Hypothesengeleiteten Vorgehen nach Dodd (2005) könnte bei Lukas eine Inputverarbeitungs-störung vorliegen.  Es sollte daher störungspezifisch ein phonologischer Therapieansatz gewählt werden, der gezielt dieses Defizit der phonologischen Analyse/Erkennung angeht. Sie sei einer Artikulationstherapie vorzuziehen. Lukas sollte baldmöglichst therapiert werden, ehe er ein Störungsbewusstsein entwickelt.

Die Behandlung des Kindes erfolgte nach der Psycholinguistisch orientierten Phonologie-Therapie (P.O.P.T.: Fox-Boyer, 2016, 2019). Lukas hatte die Aufgabe, erst einzelne Ziel- und die Ersatzlaute herauszuhören, dann auch bei Konsonantenverbindungen und schließlich diese zunächst isoliert und dann in KV-Silben zu imitieren. Nachdem er die Laute korrekt auf Realwortebene einsetzen konnte, wurde  eine Therapiepause eingelegt. In der zweiten Therapiephase hatte er schon nach 15 Therapieeinheiten die beiden Vorverlagerungsprozesse überwunden und konnte entlassen werden, zumal die Eltern ihn weiterhin unterstützten.

Mit dem Modell nach Strackhaus/Wells (Abb. 6.1, S. 110) bekommt der Leser eine gute Übersicht über die Abläufe der Sprachverarbeitung.

Anmerkung: Im Linguistischen Arbeitskreis, den Prof. Dr. Hans-Joachim Scholz an der Uni-versität zu Köln gegründet hatte, konnte ich die linguistische Wende hautnah miterleben und mich von der Wirksamkeit der phonologischen Therapie überzeugen. (vgl. Scholz, 1969, vgl. Romonath 1991) Außerdem durfte ich mehrmals bei Frau Tanja Jahn im Familienzen-trum Maria Rosenkranz in Düsseldorf-Wersten an einer Phonologischen Therapie teilnehmen.

7.Therapeutische Entscheidungsfindung bei Lese und/oder Rechtschreibstörungen (LRS) von Carola Schnitzler

Dr. Carola Schnitzler ist promovierte Logopädin und arbeitet am Institut zur Qualitätsent-wicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin e.V. Sie hat eine Reihe von Publikationen veröffentlicht, die eine mögliche Komorbidität von phonologischen oder von überwundenen phonologischen Beeinträchtigungen und einer Leserechtschreibschwäche (LRS) zum Inhalt hatten. Schon im vorausgegangenen Artikel von Fox-Boyer wurde auf einen möglichen Zusammenhang der beiden Störungen hingewiesen.

Frau Schnitzler hatte bereits 2009 ein Fallbeispiel beigetragen, für diese aktuelle Ausgabe aber ein ganz neues Beispiel vorgestellt.

Schnitzler berichtet über die Diagnose und Therapie von Till, eines umfänglich beeinträchtig-ten Kindes, das personenbezogen gemäß ICF beim Lesen eine Einschränkung empfunden hat. Die Umweltfaktoren boten Till Hilfen zu Hause und in der Schule an, die er gerne annahm. Grenzwertiges Hören bei Störschall wurde durch einen Platz im vorderen Klassenraum ausgeglichen. Bei den Körperfunktionen war nur noch ein Sigmatismus auffällig. Wegen der logopädischen Vorgeschichte bestand jedoch ein erhöhtes LRS-Risiko. Bei Till zeigten sich Restsymptome einer phonologischen Verarbeitungsstörung  und somit eingeschränkte Vor-läuferfunktionen für den Erwerb basaler Schriftsprachstrategien, insbesondere der phonolo-gischen Bewusstheit. Sie äußerten sich in Funktionsstörungen der geschriebenen Sprache in Form einer kombinierten LRS. In seinen Aktivitäten und der Partizipation war Till kaum ein-geschränkt, allerding befürchteten die Eltern und die Lehrerin, dass er zukünftig in seinem Bildungserfolg beeinträchtigt sein könnte.

Im Folgenden wird stichwortartig das weitere Vorgehen beschrieben:

Diagnostik des Lesens und Rechtschreibens

  • standardisierter Test
  • freie Lese- und Schreibproben

Basale Lesefertigkeiten

  • SLRT-II: Wortlesen und Pseudowortlesen
  • Hamburger Freie Leseprobe

Diagnose und Schriftspracherwerbsstandes

Planung und Verlauf der Maßnahme

–    Arbeit mit dem Trainingsplan, mit dessen Hilfe Till sein Schreiben strukturieren

konnte, um schrittweise zu einer lautgetreuen Schreibung zu kommen

Zwischendiagnostik

Abschlussdiagnostik

Empfehlung für das weitere Vorgehen

Frage an den Therapeuten: Wer übernimmt die Kosten für außerschulische Fördermaßnah-men?

Für die Beantragung einer Leistung der Eingliederungshilfe nach § 35aSGB VIII beim Jugendamt ist ein jugendpsychiatrisches Gutachten erforderlich, mit dem nachgewiesen wird, dass bei dem Kind bereits eine seelische Behinderung vorliegt oder dass es mit hoher Wahr-scheinlichkeit von einer solchen bedroht ist.

8. Therapeutische Entscheidungshilfe bei Hörschädigungen von Bianka Wachtlin

Wachtlin ist Verwaltungsprofessorin für Logopädie an der HAWK in Hildesheim. Sie  hat zusammen mit Andrea Bohnert ein Buch über kindliche Hörschädigungen in der Logopädie herausgebracht. Sie ist bei dieser Auflage als Autorin neu dazugekommen.

Anmerkung: Mit Hörschädigungen habe ich mich befasst, weil in der Regel ein Drittel meiner sprachbehinderten Schüler davon betroffen waren. Es ergab sich dadurch die Möglichkeit, in der Pädaudiologie der Universitätsklinik in Düsseldorf bei der Logopädin Cordula Helfert zu hospitieren. Als Fachleiterin war ich auch mit der Begleitung von Lehramtsanwärterinnen und –anwärtern an Schulen für Schwerhörige und im gemeinsamen Unterricht im Primarschulbereich (1. – 4. Schuljahr) betraut.

Wachtlin berichtet von einem Jungen N., der mit einer Resthörigkeit zur Welt gekommen sei, und der zunächst mit Hörgeräten und dann mit Cochlea-Implantaten versorgt wurde. Wegen Trinkschwierigkeiten sei der Junge nach der Geburt mit Verdacht auf eine Fistel zwischen Luft- und Speiseröhre auf die Intensivstation für Neugeborene gekommen. Wegen des Ver-dachtes auf Aspiration habe das Kind eine dreifache antibiotische Therapie erhalten. Von diesen Medikamenten kann eines toxisch auf das Gehör wirken. Die Eltern wurden aber offensichtlich nicht aufgeklärt, warum in dem Verdachtsfall einer ösophagotrachealen Fistel es keine andere Option gab. Zum Glück habe sich der Verdacht nicht bestätigt und die Trink-probleme des Kindes hätten nachgelassen.

Durch eine Sequenzierung konnte eine frühkindliche sensorineurale Hörschädigung ausge-schlossen werden. Auch die Überprüfung der mitochondrialen DNA auf das Vorhandensein der A155G-Anomalie war negativ.

Um ihren Sohn bestmöglich zu fördern, wünschten die Eltern, er möge so bald wie möglich Cochlea-Implantate erhalten. Warum andere Kinder in der Versorgung mit Implantaten vor-gezogen wurden, war den Eltern offensichtlich nicht erklärt worden.WACHTLIN vermutet, dass sie möglicherweise mit anderen Eltern gesprochen hätten, deren Kinder vorgezogen wur-den, etwa weil diesen eine oblitierende Labyrinthitis als mögliche Folge einer bakteriellen Meningitis drohte.

Wenn man bedenkt, dass das Lebensalter und das Höralter des Kindes N. stark auseinander-klaffen, so ist es schon bemerkenswert, welche Leistung es in der kurzen Zeit erbracht hat. Seine Kommunikation beschreibt die Therapeutin als regelhaft und intentional. Seine Stimme klinge melodisch bei einer ausdrucksstaken Prosodie. Allerdings wären typisch audiogen bedingte Artikulationsstörungen auffällig. Die konsequente phonologische Störung sei daher durch standardisierte Verfahren untersucht worden. Im allgemeinen Wortschatztest (AWST-R 3-5 Kese – Himmel, 2005) lag das Ergebnis über dem Durchschnitt. Im PLAKSS-II-Test nach Fox-Boyer zeigten sich jedoch phonologisch strukturelle Prozesse, ebenso leichte Unsicher-heiten im Test zur phonologischen Bewusstheit (TBP, Fricke/Schäfer 2011). Bei weiteren Tests hätten die Ergebnisse aber im Bereich der Altersnorm gelegen.

Bei der Entscheidungsfindung konnte sich die Therapeutin auf die ausführlichen Ergebnisse der Voruntersuchung beziehen. Die Indizierung einer Therapie konnte so dezidiert begründet werden, da der Erwerb des phonologischen Systems Auffälligkeiten zeigte. Die Therapeutin plädierte  für einen unmittelbaren Beginn, bevor sich bei dem Jungen ein Störungsbewusstsein aufbaue.

9.Therapeutische Entscheidungsfindung bei Stottern im Kindesalter von Patricia Sandrieser

Sandrieser ist Lehr- und Forschungslogopädin am Katholischen Klinikum Koblenz Monta-bauer. Sie hat ein Buch und Videos zur Diagnostik und Therapie des Stotterns bei Kindern verfasst. Sandrieser hatte bereits 2009 ein Fallbeispiel beigetragen, für diese aktuelle Ausgabe aber ein ganz neues Beispiel vorgestellt.

Sandrieser berichtet über Johann, ein 5;3 Jahre altes Kind, das Symptome einer Sprechablauf-störung zeigte, die von dem behandelnden Kinderarzt aber nicht sicher zu deuten war, wes-halb er den Eltern empfahl, den Jungen in der Pädaudiologischen Sprechstunde einer Klinik vorzustellen.

Die Diagnose wurde von einem Dreierteam gestellt, wobei eine Phoniaterin schon nach einer kurzen Anamnese zweifelsfrei Johanns Sprechweise als Stottern deklarierte. Der Hörtest war unauffällig. Als nächstes folgte dann eine zweistufige Diagnostik mit der Anamnese und einer repräsentativen Sprechprobe. Wenn sich die Vermutung der Stottersymptomatik bestätigt hätte, wäre die Familie unter Zuhilfenahme des Modells der International Classification of Functioning beraten worden. Das sollte ihr die Möglichkeit geben im Sinne einer partizipati-ven Entscheidungsfindung für ihr Kind zu votieren.

Bei der Frage, warum die Diagnose „Stottern“ als Indikation für eine Therapie nicht ausreicht, gilt es zu bedenken, dass sich etwa 70 % der Symptomatiken von selbst auflösen. Remissio-nen finden meist innerhalb von zwei Jahren nach Stotterbeginn statt, werden aber auch noch bis zur Pubertät beobachtet. Außerdem gibt es Stotternde, die weder ein Störungsbewusstsein noch ungünstige Copingstrategien entwickeln. „Alle Kinder früh zu therapieren wäre daher ökonomisch und ethisch nicht vertretbar.“ (141)

In der Anamnese sollte daher die Besonderheit des Störungsbildes erfasst werden:

  • „situationsabhängige Variabilität
  • phasenweise schwankende Verläufe
  • individuell variierende Trigger
  • Vorkommen von Stottern in der Familie
  • maladaptive Coping-Strategien
  • bisherige Therapie-Erfahrung oder Beratung.“ (142)

Die Diagnostik erfolgte zweiteilig, einmal das Stotterphänomen an sich und des weiteren seine Auswirkungen auf die Psyche sowie auf die Bewältigungsstrategien und mögliche Einschränkungen der Lebensqualität.

Um das Stottern zu diagnostizieren ist es hilfreich, die Kommunikation alltagsnah zu gestal-ten und bei der Begleitperson nachzufragen, ob die Reaktionen des Kindes in der häuslichen Situation ähnlich ausfallen. Um eine umfassende Sprechprobe zu bekommen, sollte diese möglichst mit Video in unterschiedlichen Anforderungssituationen aufgenommen werden, z.B. im freien Spiel, beim Erzählen einer Bildergeschichte und bei einer Nachfrage der Thera-peutin zu einem Hobby des Kindes. Dabei können seitens der Therapeutin Stressoren eingebaut werden, damit das Sprechverhalten des Kindes unter Zeitdruck oder erhöhten lingu-istischen Anforderungen eingeschätzt werden kann. Bei einer Videoaufzeichnung könnten auch Begleitsymptome beobachtet werden.

Die Beratung zu möglichen Verläufen des Stottern ist hilfreich, weil dadurch für die Eltern erkennbar ist, dass nicht jedes Kernsymptom von Gesprächspartnern als störend wahrge-nommen wird und weder der Schulbesuch noch die spätere Berufswahl oder die sozial-kommunikativen Kontakte davon beeinflusst werden müssen. Bei der Beratung zu Terapie-möglichkeiten gibt es deshalb auch die Option des Zuwartens.

Wollen Eltern dennoch mit einer Therapie beginnen, so müssen sie über die  Therapiemög-lichkeiten in Johanns Altersgruppe informiert werden.

Sandrieser führt auf:

  • das verhaltenstherapeutische Lidcombe-Verfahren (Lattermann 2010)
  • die Stottermodifikation „Kinder dürfen Stottern“ (Sandrieser/Schneider 2015)
  • das indirekte Konzept des Londoner Palin Centers (Kelman/Nicholas 2008/2014)

Bei dem Lidcomb-Verfahren fehlte mir der Hinweis auf die australischen Autoren Onslow et al. Bei der Stottermodifikation hätte ich einen Hinweis auf Wendlandt erwartet, der diesen Ansatz entscheidend mitgeprägt hat (vgl. Kapitel 10, S. 162). Bei den Literaturangaben zum Palin-Konzept hätte ich mir den Hinweis auf die Bearbeitung und Übersetzung von Iven, C./Hansen, B. gewünscht.

Die Therapeutin konnte auch auf Informationen von Selbsthilfegruppen und Berufsverbänden verweisen. Im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung können die Therapeuten die Verantwortung für die Wahl der Methode in die Hände der Eltern zurückgeben.

10. Therapeutische Entscheidungsfindung bei Stotternvon Maria Rapp

 Rapp ist Lehrlogopädin an der Schule für Logopädie in Bremen.

Rapp beschreibt in Ihrer Fallstudie den Leidensweg eines jungen Mannes, der schon mehr-mals versucht hat flüssig sprechen zu lernen, dessen Misserfolge ihn bei diesem Unterfangen jedoch in einer Angstspirale gefangen hielten. Die Therapie zielte darauf ab, die Lebensge-staltung nicht mehr vom Stottern abhängig zu machen und den Lebensspielraum nicht mehr durch Vermeidungsverhalten einzuschränken. Deshalb half die Therapeutin ihrem Klienten seine Zufriedenheit qualitativ einzuschätzen.

Rapp bezieht sich in ihrem Konzept auf die ganzheitlichen Wege und integrativen Konzepte für die Therapie und Selbsttherapie nach Wendlandt.

Anmerkung: In meinem Studium wurde der Ansatz von Wendlandt kontrovers diskutiert. Ich empfand ihn als beachtenswert.

11. Therapeutische Entscheidungsfindung bei pragmatisch-kommuni-kativer Störung im Kindesalter von Dr. Bettina Achhammer

Achhammer wurde 2014 an der Ludwig Maximilian Universität zu München, Fakultät für Psychologie und Pädagogik zu dem Thema:

„Förderung pragmatisch-kommunikativer Fähigkeiten bei Kindern: Konzeption und Evalu-ation einer gruppentherapeutischen Intervention mit Methoden des Improvisationstheaters.“ promoviert. Sie ist bei dieser Auflage als Autorin neu hinzugekommen.

Anmerkung: Ich habe ihre innovative Arbeit wie folgt kommentiert:

 „Achhammer hat die komplexe Störung pragmatisch-kommunikativer Fähigkeiten erforscht, bei der nicht nur der Spracherwerb sondern auch die sozialen Beziehungen der betroffenen Kinder beeinträchtigt sind. In der theoretischen Erörterung des Phänomens bezieht sich die Autorin auf integrative Modelle, die sie übersichtlich darstellt. Genuin hat sie PraFit ent-wickelt, eine Gruppentherapie mit Improvisationstechniken, die im Rahmen einer sozialen Interaktion die Eigen- und Fremdwahrnehmung, die Sprachverwendung im Kontext und die Erzählfähigkeit in der Gruppe fördert. Eine detaillierte Beschreibung dieser erfolgsver-sprechenden Arbeit findet sich in der BÜCHERECKE von Sprache-Stimme-Gehör, Ausgabe 4, Dez. 2016.“

Wenn Achhammer bemerkt, dass es bislang noch keine Klassifikation innerhalb der ICD-10 sowie noch keinen Indikationsschlüssel in den Heilmittelrichtlinien gibt, so nimmt es nicht Wunder, dass das Phänomen kaum von behandelnden Ärzten wahrgenommen wird. Da es häufig mit anderen Sprachentwicklungsstörungen vergesellschaftet ist, wird die pragmatische Störung kaum diagnostiziert, was auch damit zusammenhängt, dass im deutschsprachigen Raum noch keine verlässlichen Entwicklungsdaten im Bereich der Pragmatik existieren.

Dass pragmatische Störungen auch unabhängig von Sprachentwicklungsstörungen auftreten können, ist bislang besonders im Zusammenhang mit Störungen aus dem Formenkreis des Autismus-Spektrums bekannt.

Achhamer beschreibt die Fallgeschichte des 8.6 jährigen Marco, bei dem nach der Schilderung der Mutter der Verdacht auf eine pragmatisch-kommunikative Störung vorliegt. Die Diagnostik erfolgte nach dem hypothesengeleiteten Verfahren nach Achhammer et al (2016) in vier Schritten:

  • „Beobachtung des spontanen Kommunikationsverhaltens beim Anamnesegespräch
  • (= Spontansprachanalyse),
  • das Pragmatische Profil (= Befragung und diagnostisches Gespräch mit der Mutter),
  • Mäuschengeschichte(= Elizitationsverfahren zur Überprüfung des Textverstehens und der Erzählfähigkeit im Bereich Nacherzählung),
  • Fragebogen zur Einschätzung der kindlichen Erzählfähigkeit (FekE) mit Bewertung einer Bildergeschichte und einer Startsatzgeschichte (Elizitationsverfahren zur Über-prüfung der Erzählfähigkeit unterschiedlicher Erzählformen).“ (164)

Bei der Entscheidungsfindung leitete Achhammer die Therapieziele aus der folgenden Diagnostik ab: da bei Marco eine sekundär pragmatisch-kommunikative Störung vorlag, bestand ein umfassender Interventionsbedarf. Diesen stellte die Therapeutin zusammen-fassend sehr übersichtlich in einer Tabelle dar.  Die Therapieziele wurden detailliert für die Bereiche Textverarbeitung und Textverständnis sowie für Kommunikationsverhalten und Gesprächsführung aufgeführt. Ebenso klar waren die tabellarischen Übersichten zu den Therapierahmen  gestaltet.

Im Therapieverlauf legte Achhammer zunächst den Schwerpunkt auf eine Verbesserung des Textverständnisses. Es folgte im zweiten Therapieabschnitt die Verbesserung der Erzählfähig-keit. Im dritten Therapieabschnitt stand der flexible Umgang mit Sprache im Vordergrund. Hierzu modulierte Achhammer PraFit – die  von ihr  entwickelte Gruppentherapie –  mit Improvisationstechniken für die Einzeltherapie.

In ihrem Fazit zog Achhammer den Schluss, dass bei Marco in den Bereichen Textverarbei-tung und -produktion und in der Gesprächsführung gute Fortschritte erzielt wurden. Aus Sicht der Therapeutin könnte Marco in Bezug auf seine Fähigkeiten beim Turn Taking und auch im Situations- und Kontextverhalten aus einer  Gruppenbehandlung mit der Therapie-PraFIT profitieren.

12. Therapeutische Entscheidungsfindung bei Poltern von Anja Herbach und Matthias Kraus

Herbach arbeitet als Lehrlogopädin an der Berufsfachschule für Logopädie in Würzburg. Sie hat ein Buch zur systemischen Intervision für den Alltagsgebrauch verfasst. Herbach ist bei diesem Fallbeispiel als Autorin neu hinzugekommen.

Kraus ist Sonderpädagoge und akademischer Sprachtherapeut. Er arbeitet als stellvertretender Werkstattleiter und Qualitätsmanagementbeauftragter der Werkstätte für geistig behinderte Menschen im St. Josefstift in Eisingen. An der Universität Würzburg hat er ein Projekt zum Thema: „Poltern bei erwachsenen Berufsschülern mit Lernbehinderung“ abgeschlossen.

Da sich die Ergebnisse zur derzeitigen Forschung der Poltertherapie als sehr divergent darstel-len, ist es kaum möglich, dieses Störungsbild kurz und prägnant zu definieren. Die Autoren beschreiben daher die Evidenzlage zum Thema sehr ausführlich und kommen zu dem Schluss, dass sie nicht warten können, bis Poltern umfänglich erforscht ist. Die Therapeuten verfolgen in Planung, Durchführung und Anpassung der Therapie einen praxisnahen hand-lungssteuernden hermeneutischen Zugang. Neben bewährten sprachtherapeutischen Arbeits-prinzipien beziehen sie sich auf Annahmen der Systemtheorie. Es werden systemische Zu-sammenhänge beachtet, wie sie auch innerhalb des bio-psychosozialen Modells der ICF Anwendung finden.

In ihrem Fallbeispiel ging es um die Therapie eines Seiteneinsteigers, Herr X, der als ehema-liger Industriemeister nach der Umschulung in einem Staatsinstitut seit zwei Jahren als Fach-lehrer für gewerblich-technische Berufe gearbeitet hat. Seine laute, schnelle und daher oft unverständliche Sprechweise sei auf herbe Kritik der Schüler gestoßen, was zur Folge hatte, dass Herr X vom Schulleiter aufgefordert wurde sich in eine logopädische Behandlung zu begeben.

Herr X, obwohl er selbst keinen Behandlungsbedarf bei sich erkannt hatte, kam der Aufforderung nach, weil er sonst um seine Anstellung hätte fürchten müssen. Nach der sehr präzisen Anamnese und Befunderhebung der Polterdiagnostik wurde des weiteren eine Stimmdiagnostik beim Phoniater empfohlen, der Auffälligkeiten im Bereich der Stimmlippen und der hinteren Fissur feststellte. Das Schwingungsmuster erwies sich als asymmetrisch und der Schwingungsablauf als irregulär, der Glottisschluss war unvollständig. Des weiteren wurde eine supraglottische Kontraktion, mäßiger Taschenfalteneinsatz und eine Petiolus-vorwölbung festgestellt. Diese Parameter sind keine typischen Hinweise auf eine Polterstö-rung, können aber sehr wohl Begleiterscheinungen sein, weshalb die Therapeuten verschie-dene stimmtherapeutische Aspekte mit in die Behandlung einbezogen.

Die Therapie erfolgte als ein prinzipiengeleiteter Anpassungsprozess. Als polterspezifische Arbeitsprinzipien wurden ein synergetisch-systemisches Denken benannt. Mit einer deskrip-tiv-phänomenologischen Haltung sollte das Sprechen, so wie es sich zeigt, möglichst vorur-teilsfrei beschrieben werden. Ausgehend von der Annahme unterschiedlich stark ausgeprägter Wechselwirkungen standen die Einzelleistungen des Sprechgeschehens im Fokus, so die Parameter Artikulation, Phonation und Respiration. Die veränderungsresistente Einzelleis-tung, wie z.B. das Sprechtempo, konnte  so reguliert werden. Die Therapeuten empfahlen eine Visualisierung dieser systemischen Zusammenhänge gemeinsam mit dem Klienten in Bezug auf die Veränderungswirkung und –stärke und im Kontext der gemeinsamen Hypothesenbil-dung durchzuführen.

Des weiteren wurden die Prinzipien zum Arbeitsskript, zur Bewusstheit für eigenes und frem-des Sprechen, der Sprechphysiologie und der individuell polterbezogenen Sprechpathologie einbezogen. Außerdem sollte die Spiegelung von Missverstehensäußerungen der Zuhörer beachtet werden. Es wurden Prinzipien zur sprecherischen Variationsfähigkeit aufgeführt. Übungen, Anleitungsformen und Veränderungsaufgaben sollten variieren und nach Schwie-rigkeit gestaffelt sein.

Als Prinzipien der neuen Sprechweise wurden aufgeführt: eine ausgeprägte Bewusstheit und Variationsfähigkeit als Voraussetzung für eine neue angemessene Sprechweise. Vielver-sprechende neue Sprechweisen: individuell konfiguriert und gemeinsam mit dem Klienten entwickelt, eine für den Klienten „stimmige“ Sprechweise, die gemeinsam beschrieben wur-de, Arbeitstechniken zu Selbstkorrekturen und zum Umgang mit gescheiterter Kommunika-tion.13.

Die Behandlung erfolgte nach den angeführten Prinzipien. Es gab einen systematischen Überblick über den Ablauf und den therapeutischen Erfolg mit der Quintessenz:

„Aufgrund der therapeutischen Schwerpunktsetzung und des erfolgreichen Therapieverlaufes verfügt der Patient nun über die notwendigen Kompetenzen, sein Sprechen weiterhin selbst-verantwortlich zu steuern und situativ anzupassen.“ (192)

13. Therapeutische Entscheidungsfindung bei Aphasie von Holger Grötzbach

Grötzbach leitet als Neurolinguist die Sprachtherapie der Asklepios Klinik in Schaufling. Er hat zahlreiche Bücher und Beiträge zum Thema herausgebracht (vgl. Literaturliste).

Grötzbach schildert den Fall des 39-jährigen Herrn T., der bei vorbildlicher Lebensführung und trotz gutem Gesundheitsstatus einen Schlaganfall und daher multiple neurologische Schä-digungen erlitt. Markant war eine Aphasie, die mit einer Lähmung des rechten Arms und einer Funktionseinbuße der rechten Hand einherging. Herr T. war zunächst auf einen Roll-stuhl angewiesen. Emotional extrem belastend war die Reaktion seines 12-jährgen Sohnes, der den Vater am dritten Tag in der Stroke Unit besuchte und sich ihm total mit den Worten verweigerte, dass dieser Mann nicht sein Vater sei.

Wurden früher Anamnesen primär im Hinblick auf die neurologischen Befunde erstellt, so stützen sich heute ICT-basierte Angaben auf vielfältige Komponenten des betroffenen Klien-ten. Bei der Partizipation wird erfragt, welche Vorstellungen der Klient von seiner gesell-schaftlichen Teilhabe hat. Danach werden die Aktivitätsstörungen benannt und die positiven und negativen Kontextfaktoren geschildert.

Im Folgenden wurden Diagnostik, Therapie und die berufliche Wiedereingliederung detail-liert beschrieben. Die Diagnostik der Schreibleistung wurde sehr differenziert nach den Kriterien Wortsemantik, Wortstruktur und Wortstatus durchgeführt. In der Therapie fand die SMART-Regel Anwendung. Bei der Entlassung zeigte sich eine deutliche Verbesserung.

Zur Vorbereitung der beruflichen Wiedereingliederung wurden Empfehlungen zur Ausstat-tung des Arbeitsplatzes mit einem Einhandtelefon und mit einer Einhandtastatur des Compu-ters speziell für Linkshänder ausgesprochen und auch seitens des Betriebs durchgeführt, so-dass eine stufenweise Wiedereingliederung gelang.

Der Text war für mich sehr gut nachvollziehbar. Bemerkenswert empfand ich den Hinweis auf Spontanremissionen. Informativ sind eine Liste aktivitätsorientierter Messinstrumente nach Schwinn et al. (2014) und umfangreiche Literaturangaben.

14. Therapeutische Entscheidungsfindung bei Dysphagie  von Margit Frehrking

Frehrking ist Mitarbeiterin an der DIAKOVERE Akademie Hannover und bekleidet Lehraufträge an der HAWK-Universität in Hildesheim. Sie ist in dieser Ausgabe als Autorin neu hinzugekommen.

Die Autorin beschreibt den Fall von Herrn B., der zum zweiten Mal wegen einer Aspirations-pneumonie in ein Krankenhaus eingewiesen wurde. Dort habe man veranlasst, dass der Patient zu Hause eine therapeutische Unterstützung bekommen sollte, damit seine Betreuung sichergestellt sei. Herr B. litt unter leichten fokalen epileptischen Anfällen und einer dadurch resultierenden progressiven Enzephalopathie. Wegen Stenosen der Karotiden wurde er schon einmal operiert, allerdings mit mäßigem Erfolg.

In der Anamnese schilderte die Schwägerin den Krankheitsverlauf: B. sei nicht mehr zu einer selbständigen Lebensführung fähig. Durch seine Krampfanfälle weise er große Schwankun-gen im Befinden auf. Er sei in seiner Selbständigkeit und auch in der Schluck- und Kommu-nikationsfähigkeit beeinträchtigt. Wenn er große Probleme beim Schlucken der Speisen habe, würde er stark husten, was für ein gemeinsames Essen sehr belastend sei. Die Therapeutin im Krankenhaus habe ihm pürierte Kost empfohlen.

Die Diagnostik wurde zu Hause mit einer klinischen Schluckuntersuchung nach Bartolomé et al. (2013) und eine Essensbegleitung nach Burger-Gartner/Heber (2011) eingeleitet.  Die Therapeutin brachte den Angehörigen das SWAL-QOL mit. (Hier hätte ich mir eine Auflösung des Akronyms in: Swalloing-Quality-of-Life-Instrument gewünscht).

Im Folgenden wurde die Ruheinspektion, die Willkürmotorik und Sensibilität sowie Reflexe und willkürliches Husten und Schlucken und Schluckversuche beim Essen beobachtet.

Bei der Zusammenfassung der Ergebnisse anhand der ICF wurde als Gesundheitsproblem eine progressive Enzephalopathie bei häufigen fokalen Krampfanfällen und deutlich redu-zierter zerebraler Durchblutung und daraus resultierender Demenz und Dysphagie beschrie-ben.                                                                                                                                         Hätte sich die Autorin auf die komplett überarbeitet 6. Auflage von Bartholomé und Schröter-Morasch aus 2018 bezogen, so hätte sie aus dem neu erarbeiteten Kapitel: „Management von Störungen der Nahrungsaufnahme bei Demenz“ möglicherweise wichtige Aspekte hinzugewonnen.

Nach der ICF wurde besonders Wert auf die Bereiche Aktivität und Partizipation gelegt. Die Ernährungsentscheidung stellt einen Balanceakt zwischen ausreichender Nahrungsaufnahme und ausreichender Sicherheit dar. Die Erhaltung der Lebensqualität ist wiederum abhängig von der Zeit, die dem Patienten gewährt werden kann, wie dies Frehrking sehr übersichtlich in der Abbildung 14.2, S. 210 dargestellt hat. „Dysphagietherapien erfordern ein verantwor-tungsvolles ethisches Reasoning“ (217). Es besteht vor allem in der häuslichen Pflege die Gefahr, dass man für mehr Lebensqualität votiert, dabei aber die Gesundheit des Patienten gefährdet. Therapieziele, -inhalte und der Verlauf der Therapie wurden sehr gut nachvollzieh-bar dargestellt.

15. Therapeutische Entscheidungsfindung bei Dysarthrie von Dr. Annette Marek

Dr. Marek ist klinische Linguistin. Sie arbeitet als Lehrlogopädin an der Medizinischen Hochschule Hannover und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover.

Ihre Fallbeschreibung könnte komplexer kaum sein: ein junger Mann, Herr D, mit türkischen Wurzeln, der bei einem schweren Unfall lebensgefährliche Verletzungen erlitt. Durch beidsei-tigen Pneumotorax kam es zu einer Ateminsuffizienz und damit verbunden zu einem Herz-stillstand. Nach der Reanimation musste Herr D. vorübergehend beatmet werden. Danach zeigte sich zunächst das Bild eines apallischen Syndroms, das sich im Laufe der Zeit jedoch deutlich besserte. Es bestanden weiterhin ein linksbetontes Tetrasyndrom und eine kortikale Blindheit. Neun Monate nach dem Unfall konnte der Patient nur Umrisse erkennen und Hell-Dunkel-Unterscheidungen treffen. Im unteren Gesichtsfeld trat ein Neglectphänomen auf. Herr D. zeigte Defizite in der Informationsverarbeitung und wenig Flexibilität in seinen Handlungen. Es kam zu Perseverationen. Die visuellen Leistungen verbesserten sich deutlich, allerdings war das Erkennen von Buchstaben noch stark eingeschränkt. Mit dem Lesegerät konnte er bei einer 40-er Schriftgröße Wörter lesen, jedoch nur für kurze Zeit. Rechtsseitig bestand noch eine feinmotorische Beschränkung. Sein Gangbild war auffällig. Zunächst erhielt Herr D. eine Ergotherapie, bei der die Förderung der Sensibilität und der Konzentra-tionsfähigkeit im Vordergrund stand.

Über soziale Aspekte wurden berichtet: Kontakte mit der Familie und Freunden am Wochen-ende und Urlaub in der Türke bei seinem älteren Bruder. Während der Woche erhalte D. täg-lich mindestens fünf  Therapien: Ergotherapie, Sporttherapie, computergestütztes Visustrai-ning, Physiotherapie, sowie logopädische Therapie. Herr B. hatte nach dem Hauptschulab-schluss eine Lehre als Automechaniker begonnen, diese aber bereits vor dem Unfall abgebro-chen.

Als linguistische und kommunikative Aspekte wurde benannt, dass Herr D. seit sieben Mona-ten vier- bis fünfmal pro Woche eine Sprachtherapie erhalten habe. Behandelt wurden ein neurogenes Stottern, die kostaabdominale Atmung, die fazioorale Stimulation sowie artikulatorische Fähigkeiten.

Ein Therapeutenwechsel führte zu einem Überdenken der Therapieinhalte, die evaluiert und ggf. modifiziert werden sollten. Die Therapeutin gewann im Gespräch mit D. den Eindruck, dass er unter einer sprechmotorischen Störung leide. Beobachtet wurde eine Fehlerinkonsis-tenz bei der Artikulation und Unflüssigkeiten durch Wiederholungen, was auf eine mögliche sprechapraktische Komponente hindeutet. Innerhalb des Assesments wurde der Schwerpunkt auf die auditive Beschreibung der Sprache gelegt. Und mit der Variante der Bogenhausener Dysarthrieskalen für Erwachsene ohne Lesen überprüft. Dabei wurden Atmung, Stimmlage, Stimmqualität, und –stabilität, Artikulation, Resonanz, Tempo, Redefluss und Modulation überprüft. Schwerpunktmäßig waren Phonation, Artikulation und Prosodie betroffen.  Die Ergebnisse der Diagnostik wurden übersichtlich in einem Schema anhand der ICF dargestellt (Abb.15.2, S. 224). Es stellte sich die Frage, ob bei D. innerhalb der Therapie noch funktiona-le Verbesserungen zu erwarten sind, ob sprechmotorisch relevante Funktionen geübt werden sollten, oder ob der Focus auf seine Sprechweise gelegt werden sollte, um sich seiner Umge-bung leichter verständlich machen zu können.

Bei der Entscheidung über Ansätze und Methoden spielte es eine große Rolle, ob Herr D. motiviert war, die nötige Aufmerksamkeit für den Therapieprozess aufzubringen. Hier zeigte er erste Ansätze, wenn er z.B. bei Blockaden sein Sprechtempo reduzierte. Als Therapie-schwerpunkte könnte auf kommunikative Strategien fokussiert werden um die Einschränkung der Verständlichkeit zu überwinden. Um die Natürlichkeit des Sprechens zu erzielen, könnten prosodische Elemente eingesetzt werden.

In der partizipativen Zielfindung kristallisierte sich schnell heraus, dass Herr D. von anderen Personen, auch von Fremden besser verstanden werden wollte. Er beklagte, dass er ins Sto-cken gerate, dass sein Sprechen blockiert sei und es zu Suchbewegungen komme: „Als wäre alles weg.“ (226). Zur Schulung der Eigenwahrnehmung wurde Herr B. angehalten, den Ist-Zustand genau zu spezifizieren und den Sollzustand immer wieder zu evaluieren.

Das therapeutische Setting der Einrichtung ermöglichte ein regelmäßiges Therapieangebot mit einem Austausch der beteiligten Therapeuten. Dadurch konnten die Therapien frei geplant und aufeinander abgestimmt werden. Spezifische Therapieinhalte waren:

·      Tonus und Respiration

·      Artikulation

·      Prosodie/Sprechgeschwindigkeit

Nach fünf Monaten zeigten sich vielversprechende Erfolge durch die Formulierung alltagsori-entierter und z.T. disziplinübergreifender Ziele, sodass die Therapie nach gemeinsamer Über-legung mit Herrn B. vorerst beendet wurde. „Die Kombination von funktions- und partizipa-tionsorientierten Methoden hat sich als sehr effizient erwiesen.“(231)

16. Therapeutische Entscheidungsfindung bei Hyperfunktioneller Dysphonie von Mechthild Clausen Söhngen

Clausen-Söhngen ist Lehrlogopädin und Lehrtrainerin für Transaktionsanalyse (EATA).      Die Therapeutin wurde von einer 36-jährigen Patientin, Frau B. ausgewählt, die durch gezielte Fragen zum Setting der Stimmtherapie im ersten Telefonat schon eine Basis für die spätere therapeutische Beziehung legte. Frau B. wollte nach längerer Zeit, in der sie sich neben einer Halbtagsbeschäftigung um Haushalt und Kinder gekümmert hatte, nun als frei-berufliche Supervisorin im Finanzbereich arbeiten. Dafür hatte sie eine mehrjährige Ausbil-dung absolviert. Ihr Supervisor hat sie auf ihre Stimmprobleme  aufmerksam gemacht, und ihre Freunde bestätigten, dass ihre Stimme krächzend, zu leise und zu hoch sei.

In der Anamnese gab Frau B. an, dass sie schon immer unzufrieden mit ihrer Stimme gewe-sen sei und schon länger geplant hatte, etwas für ihre Stimme zu tun. Die Therapeutin erachte-te die Aufbruchsstimmung in der weiteren Lebensplanung als geeignet, die Stimmauffällig-keiten zu bearbeiten. Bei der Diagnostik orientierte sie sich am Protokoll der European Laryn-gological Society, in dem sie die Befunde ihrer Patientin durch eine Grauabstufung hervor-hob. Bei der Artikulation fiel eine Kieferenge auf, die Frau B. mit der Aufforderung „Mund zu“ erklärte, weil ihre Zähne schlecht waren. Bei der Kopfdrehprobe nach Nadolenszny ergab sich eine Verstärkung der Hypernasalität bei der Kopfdrehung nach rechts. Hier wäre ein Hinweis auf eine mögliche Lähmung des Gaumensegels auf der kontralateralen Seite ange-bracht gewesen (vgl. Fiori/Zehnhoff-Dinnesen,2012, 361).

Bei der Atmung zeigte sich ein mittelschwerer Befund mit leichter Aufblähung der Nasenflü-gel. Die Körperhaltung wies mehrere Fehlspannungen auf, die wohl schon lange andauerten und deshalb in Bezug auf die Durchlässigkeit der Atemführung beachtet werden sollten. Die Veränderungen in der Lebensführung reichten nach Ansicht der Therapeutin wohl kaum aus, um die seit Jahren bestehenden körperlichen Fixierungen aufzulösen.

Clausen-Söhngen konstatiert einen Paradigmenwechsel in der Therapie von Dysphonien: Unter dem Einfluss von Coblenzer habe die Wechselwirkung von Stimme und Intention zu der Erfahrung beigetragen, dass daraus eine gesamtkörperliche Feinabstimmung der beteilig-ten Systeme resultiere. Die Arbeit an der Stimme habe sich von einem methodenzentrierten Vorgehen zu einem „therapiebereichsorientierten Konzept“ entwickelt. Das bedeutet für die Entscheidungsfindung, dass es eine große Bandbreite von Behandlungsansätzen von symp-tomorientiert bis beratungszentriert gibt. Mit Klienten könnte daher eine Zielsetzung der Be-handlung vereinbart werden. Therapeuten könnten aus der Ausgangssituation einschätzen, welche der Methoden besser zur Heilung geeignet sei. Bei akuten Stimmerkrankungen, etwa einer Rekurrensparese, sei eine symptomorientierte Behandlung vermutlich zielführender.

In dem hier zitierten Fall geschah der Prozess der Entscheidungsfindung zusammen mit der Klientin. Das Ziel war eine gemeinsam verantwortete Ausrichtung und Strukturierung der Therapie. Dazu wurde das Wissen über die sechs Therapiebereiche Atmung, Artikulation, Stimmerzeugung und Verstärkung, Tonus/ Haltung, Intention  und Persönlichkeit erfragt. Es wurden die phoniatrischen Befunde erörtert und die Selbstwahrnehmung gesteigert. Schließlich wurde ein Vertrag erstellt, in dem seitens der Klientin Energie für den Verände-rungsprozess bereitgestellt wurde: Übungszeiten, Ändern von stimmschädigenden Gewohn-heiten etc. Seitens der Behandlerin gab es eine Verpflichtung zu Transparenz im Therapie-aufbau.

Im  Therapieverlauf konnten die Verspannungen durch manuelle Stimmtherapie und Locke-rungsübungen gelöst werden. Das führte zu Atemmustern mit Vertiefung der Ruheatmung und reflektorischer Atemergänzung. Bei der Selbstwahrnehmung des Stimmklangs halfen Techniken der Transaktionsanalyse die Einflussnahme eines starken Eltern-Ich-Zustandes auf die Sprechweise zu erkennen und zur Gesundung der Stimme zu nutzen.

Dass die Klientin zehn Jahre später eine erfolgreiche Trainerin geworden ist, kann die Wir-kungsweise der Kombination von direkten und indirekten Therapiemaßnahmen in dieser Fallbesprechung voll bestätigen.

17. Therapeutische Entscheidungsfindung bei kindlichen Stimmstörungen  von Angelina Ribeiro von Wersch

Ribeiro von Wersch ist Diplompsychologin und Logopädin und arbeitet als Referentin für frühkindliche Bildung in der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration der freien und Hansestadt Hamburg. Ihr Psychologiestudium hat sie mit einer viel beachteten Diplom-arbeit zum Thema der kindlichen Stimmstörungen abgeschlossen.

Die Autorin berichtet über einen sechsjährigen Jungen, Konstatin, der sich gegenüber seinem achtjährigen Bruder nicht durchsetzen konnte und deshalb bei Konfrontationen sehr laut wur-de. Dasselbe Verhalten zeigte er auch bei anderen Kindern. Nach Aussage seiner Mutter habe K. schon als Säugling viel geschrien. Der Vater berichtete von einem Wechsel in eine piep-sige Babystimme. Als Folge zeigten sich erhebliche Probleme im orofacialen Bereich: Konstantins Stimme war chronisch heiser und versagte ihm mitunter ganz den Dienst. Die Eltern vermuteten, dass auch der hohe Lautpegel in der Kita zu den Stimmproblemen ihres Sohnes  beigetragen habe.

Die phoniatrische Untersuchung zeigte bereits als Folge des Schreiens eine hyperfunktionelle Dysphonie mit beiderseitigen Phonationsverdickungen, eine Heiserkeit bis zur Aphonie und eine gestörte Phonationsatmung. Beim Hören zeigten sich keine pathologischen Befunde.

Bei der logopädischen Untersuchung wurde insgesamt eine tendenziell hypotone Grundhal-tung mit einem geringen Lippen-Kiefer-Spiel und einem leichtem Sigmatismus addentalis festgestellt. K. zeigte Auffälligkeiten bei der Atmung: Ausatmungsdauer und Tonhaltedauer waren unter dem Normbereich. Die Stimmlage war zu tief und nicht modulationsfähig genug. Die Lautstärke wurde durch eine Erhöhung des laryngealen Drucks erreicht. Beim Schreien zeigte sich eine deutliche Hyperfunktion mit ausgeprägter Hochatmung und massiver Anspan-nung im Kehlkopfbereich, was an den gestauten Halsvenen zu erkennen war. Die Artikulation wies zu wenig Spannung auf. Bei enger Kieferöffnung zeigte sich eine orofaciale Hypotonie. Beim spontanen Kommunikationsverhalten vermeide K. den Blickkontakt und zeige nur ge-ringe Gestik  und Mimik.

In einer aktuellen Übersicht referiert die Autorin eine große Anzahl von Ergebnissen deut-scher und anglo-amerikanischer Studien zur Ätiologie funktioneller Dysphonien im Kindes-alter. Dabei werden kindbezogene Entwicklungsaspekte, das Interaktionsverhalten, Persön-lichkeitseigenschaften und das familiäre und soziale Umfeld berücksichtigt.  Bei Jungen tre-ten demnach Dysphonien häufiger auf als bei Mädchen. Lange Schreiphasen könnten Einfluss auf die Entwicklung funktioneller Stimmstörungen haben und Auskunft über ihre Bedeutung in der frühen Interaktion des Kindes mit seinen Eltern geben. Außerdem könnten motorische Defizite zu Dysbalancen führen. Es zeigten sich Koexistenzen zwischen funktionellen Dys-phonien und Artikulationsstörungen, auch wenn dies bisher noch nicht hinreichend empirisch belegt sei. Die Persönlichkeitsdynamik scheine einen Einfluss auf die Entstehung von Stimm-störungen zu haben. Stimmgestörte Kinder würden häufig als zu laut und mit angestrengter Stimmgebungen beschrieben. Ihre Sprachfrequens werde als zu hoch angegeben. Gleichzeitig seien sie scheu und furchtsam und ihre überhöhte Stimmkraft werde eingesetzt, um diese Hemmungen zu überwinden. In Konflikten würden Aggressionen eher gegen sich selbst als gegen andere gerichtet, so dass vermutet werde, dass dies ein Indiz für einen Mangel an Durchsetzungsfähigkeit sei.

Ribeiro von Wersch konstatierte bei ihrem Klienten einen Zusammenhang zwischen der Stimmstörung und einem hohen Leistungsdruck.

„Die Stimme als „Seismographen“ für die Befindlichkeit in bestimmten situativen Kontexten zu verstehen, kann hilfreich sein, um auch unbewusste (Stimm-)Verhaltensweisen zu erken-nen und zu deuten und die Motive einer angestrengt-angespannten Stimmgebung auch aus einer psychologischen Perspektive zu beleuchten.“ (253)

Konstatin hatte in seiner Entwicklung keine Auffälligkeiten gezeigt, die seine laute Stimme hätte erklären können. Er sei gesund und habe sich grob- und feinmotorisch gut entwickelt und auch seine Sprachentwicklung sei unauffällig. Er habe aber bereits als Säugling viel ge-schrien und dann immer Zuwendung erhalten. Es könnte daher sein, dass sich dieses Verhal-ten manifestiert habe und nun von dem Jungen eingesetzt werde, um sich gegenüber seine Familie durchzusetzen. Die Durchführung der Frankfurter-Selbstkonzept-Inventars bestätigte die Vermutungen der Therapeutin, dass sich Konstatin selbst unter Druck setzt. Die Eltern vermuteten dasselbe und sahen den Grund in der Tatsache, dass er seinem älteren, erfolgrei-chen Bruder nacheiferte.

Das individuelle Verursachungsmodell geht davon aus, dass die Geschwisterbeziehung ange-spannt ist. Seinem Bruder gegenüber habe Konstantin wenig Chancen, sich zu behaupten und seine Interessen zu vertreten. Daraus ergeben sich die Fragen, ob zwischen den Geschwistern eine Konkurrenz um Anerkennung bestehe, welche Rolle Leistung in der Familie spiele und ob jedes Kind Raum habe, sich entsprechend seiner Interessen zu entfalten.

Der Entscheidungsfindungsprozess bezog sich auf ein individuelles Verursachungsmodell. Aus den gewonnenen Informationen wurde ein Hypothesengerüst erstellt, das eine Grundlage für das Interventionsmodell bot. Das Modell kann jederzeit flexibel erweitert und überprüft werden.

Die Therapieplanung basierte auf logopädisch-funktionalen und auf kommunikativen Aspek-ten. Die kompensatorischen hyperfunktionellen Symptome sollten zugunsten einer physiolo-gischen Stimmgebung abgebaut werden, um so die Stimmfunktion zu stärken.

Bei den kommunikativen Aspekten galt es den kommunikativen und emotionalen Ausdrucks durch Mimik und Gestik und verbal-argumentativen Fähigkeiten zu fördern. Begleitend wur-den wegen der konfliktreichen Geschwisterbeziehung und eines inkonsequenten Erziehungs-verhaltens Gespräche mit den Eltern geführt.

Das Therapiekonzept berücksichtigte die Komplexität der Stimme im Sinne eines mehrdimen-sionalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs. Die Interventionen bezog sich nicht allein auf die Arbeit an sichtbaren Parametern sondern berücksichtigten neben den logopädisch-funktio-nalen Aspekten auch kommunikative sowie familiendynamische Aspekte, wie sie im Inter-ventionsmodell, Abb. 17.2 (257) übersichtlich dargestellt wurden. Fünf Spielbeispiele veran-schaulichen den therapeutischen Prozess. Er war zielführend und die Therapie konnte nach zwanzig Einheiten beendet werden.

18. Didaktisches Reasoning in der Sprachtherapie von Andreas Wolfs

Wolfs ist Logopäde und Erwachsenenbildner und arbeitet in einer Praxis für Sprach- und Lerntherapie in Hannover. 2019 hat er ein Buch über konstruktivistische Sichtweisen in der logopädischen Therapie herausgebracht. Sein Fallbeispiel wurde neu in dieses Buch aufge-nommen.

Wolfs betrachtet das didaktische Reasoning unter einem systemisch-konstruktivistischen Blickwinkel, was bedeutet, dass Lernprozesse von den Lerngeschichten und den Problemlö-sungsstrategien der Klienten abhängen. Dabei erklärt Wolfs das Lernen, also die Erweiterung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten, als einen wesentlichen Anteil des therapeu-tischen Prozesses. Das Lernen ist demnach integraler Bestandteil des Therapieverlaufes, deshalb sei die Schaffung von Lehr/Lernarrangements in der Sprachtherapie essentiell. Die hierzu notwendigen Reflexionsprozesse werden als Didaktisches Reasoning bezeichnet. Wolfs nutzt zur Beschreibung dieses Prozesses neue Bezeichnungen, die dazu beitragen sollen, eigene Blickwinkel auf Zusammenhänge zu verändern: Anschlussfähigkeit, Diffe-renzerfahrung, Perturbation und Viabilität werden erklärt und in den geschilderten therapeutischen Prozessen mit Beispielen belegt.

Wolfs zeigt an drei unterschiedlichen Therapieeinheiten auf, welche prospektiven und retrospektiven Leitfragen den Lernprozess unterstützen. Aus den geschilderten therapeuti-schen Settings wurden Erfahrungen gesammelt und didaktisch hinterfragt. Didaktisches Reasoning kann in Bezug auf zukünftige Lehr-Lern-Situationen als Entscheidungshilfe dienen, etwa die Frage: „Welche Veränderungen in den Settings scheinen viabel für zukünf-tige Therapieeinheiten?“ (266) Es werden Fragen zur Übertragbarkeit von Informationen, zu Anschlussfähigkeit und Differenzerfahrung, und zur Veränderung der Zielsetzung gestellt. Positive Erfahrungen im Einsatz von Medien, z.B. von Videoaufzeichnungen könnten mög-licherweise übertragen werden und auch in ähnlichen Therapiefällen hilfreich sein. Anderer-seits könnte der Einsatz von Materialien verringert werden und statt dessen ein lebensweltlich bedeutsames Thema angegangen werden, wie z.B. der Besuch eines Wochenmarktes. Es gilt also, didaktische Entscheidungen zu hinterfragen und aus positiven Erfahrungen zu lernen. Dabei gibt Wolf zu bedenken:

„Nicht die Methoden sind automaisch die wirksamsten, die sich in der eigenen Vergangenheit bewährt haben, sondern die, die den aktuellen Patienten ausreichende Differenzerfahrungen bieten und gleichzeitig im hohen Maße anschlussfähig sind.“ (269)

19. Ethisches Reasoning von Dr. Sandra Schiller

Dr. phil. Sandra Schiller arbeitet als Lehrende im Studiengang Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim. Sie ist Diplom-Bibliothekarin und Historikerin. Ihr Fallbeispiel wurde neu in das Buch aufgenommen.

Schiller ordnet das ethische Reasoning in der Sprachtherapie als eine spezifische Form des Clinical Reasonings ein: Über fachliche und über pragmatische Faktoren hinaus werden im ethischen Reasoning allgemeingültige Werte und Normen sowie individuelle Einstellungen und Überzeugungen aller Beteiligten berücksichtigt. Ethische Reflexionsfähigkeit ist ein zentrales Element der sprachtherapeutischen Professionalität.

Schiller benennt zwei zentrale Fragen der allgemeinen Ethik: Was ist ein gutes Leben? (Aristoteles) Was soll ich tun? (Immanuel Kant). Es geht um subjektive Wertvorstellungen, die im Gesundheitswesen die Frage nach der Lebensqualität beeinflussen. Die Berufsethik bietet mit ihren Normen und Werten einen Orientierungsrahmen für professionelles Handeln. Die sprachtherapeutische Berufsethik muss ihren Gegenstand und das berufliche Handeln kritisch betrachten. Auf Grund des medizinischen Fortschritts ergeben sich immer wieder neue ethische Fragestellungen, die ein breites Echo in der Öffentlichkeit finden, etwa zur Organspende. Hingegen ist die ethische Dimension sprachtherapeutischer Arbeit eine defizilere: Sprachtherapeutinnen müssen in der Lage sein, Menschen mit Kommunikations-störungen so zu verstehen, dass sie sich für sie einsetzen und ihnen ein Empowerment ermög-lichen können. Eine große Zahl möglicher ethischer Fragestellungen sind zu diskutieren, etwa die grundsätzliche Fragestellungen: kann durch die Diagnose ein Mensch stigmatisiert wer-den? Eine Therapie, auch wenn sie noch so einfühlsam geschieht, ist immer ein Eingriff in die Lebenswirklichkeit des Betroffenen, daher stellt sich die Frage, was zu tun ist, wenn der Mensch nicht mehr in der Lage ist, seine Wünsche zu äußern oder eine Behandlung zu ver-weigern. In diesem Zusammenhang müssen auch Formen institutionalisierter Macht und un-hinterfragter Handlungspraktiken auf verborgene Formen der Machtausübung überprüft wer-den. Schiller benennt fünf Faktoren, die das ethische Reasoning prägen sollen: Die Therapeu-tin, der Therapeut muss in der Lage sein, Therapieverlauf und mögliche Optionen im Hinblick auf die gesundheitliche und psychosoziale Situation eines Klienten richtig einzuschätzen. Sein Handeln muss selbstkritisch und moralisch integer sein. Die Berufsethik sollte helfen, den Reasoningprozess strukturiert zu gestalten. Es wird eine Relexionsfähigkeit erwartet – auch im Hinblick auf den Einfluss eigener subjektiver Werte im Reasoningprozess und schließlich wird die Fähigkeit zur Beziehungspflege genannt und die Fähigkeit, insbesondere in schwieri-gen Gesprächssituationen die Kommunikation aufrecht zu erhalten.

Schiller stellte an einem Fallbeispiel den Verlauf eines ethischen Reasoning-Prozesses dar. Es ergab sich für die Therapeutin die schwierige Entscheidungsfrage, ob sie den von einer flüssi-gen Aphasie betroffenen Mann weiter behandeln, oder seiner Therapieverweigerung statt geb-en sollte. Das Dilemma lag in sich widersprechenden Maximen, denn einerseits sollte dem Wunsch des Klienten entsprochen werden selbstbestimmt über den Behandlungsverlauf und ggf. über den Abbruch der Behandlung zu entscheiden und andererseits sollte seiner Gesun-dung oder Verbesserung seines Zustandes durch eine angemessene Therapie unbedingt ent-sprochen werden. Die Therapeutin befürchtete, dass diesem Bedürfnis nicht stattgegeben werde, denn nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot, dürfen medizinische Leistungen das notwen-dige Maß nicht überschreiten. Dagegen können Leitlinien der Gesellschaft für Neurologie und Qualitätskriterien und Standards der Gesellschaft für Aphasieforschung eine fachliche Orien-tierung bieten. In der Berufsordnung  des Bundesverbandes für Logopädie fand sich ein ent-scheidender Hinweis: „Die Komplexität sprachlichen Kommunikation bedingt interdiszipli-näre Zusammenarbeit, die sich auf alle Tätigkeitsbereiche der Logopädinnen erstreckt und patienten- und störungsbildabhängig ist.“ (dbl 1998,7, zitiert nach Schiller 2020). Durch Ko-operation im Team war es möglich, das Setting der Sprachtherapie zeitlich und räumlich zu flexibilisieren, so dass der Patient seinen Widerstand aufgeben konnte. Schiller reflektiert in ihrem Text weitere wichtige Aspekte, die ich hier aber wegen des Umfangs nur noch auflisten möchte:

Nutzen und Grenzen der biomedizinischen Prinzipienethik, ebenso von beruflichen Ethikko-dizes wie auch Prozessmodellen für das ethische Reasoning. In einem abschließenden Kapitel wurde der Blick auf Praxiskonzepte um zwei wesentliche Punkte erweitert: Angemessene Berücksichtigung der individuellen Klientenperspektive im ethischen Reasoning und ethische Fallbesprechung im Team.

Diskussion

Beushausen hat in vier grundlegenden Kapiteln die Prozesse der therapeutischen Entscheidungsfindung theoretisch fundiert dargestellt. In ihrem Sammelwerk hat sie danach Beiträge von fünfzehn nahmhafte Therapeutinnen und Wissenschaft-lerinnen versammelt, die anhand konkreter Fallbeispiele spezifische Probleme ihrer logopädischen Arbeit dargestellt haben. Die therapeutischen Entschei-dungsfindung konnte so sehr gut nachvollzogen werden. Einzelne Beispiele ha-be ich mit kritischen Anmerkungen versehen, aber alle Beiträge auch unmittel-bar gewürdigt.

Fazit

Das Buch stellt das gesammte Spektrum der logopädischen Handlungsfelder dar und zeigt auf, dass es auf jedem Feld moralische und ethische Probleme geben kann. Die aufgezeigten Lösungen können demnach eine wichtige Entschei-dungshilfe im Berufsalltag sein. Ich möchte das Buch allen logopädisch Tätigen empfehlen. Mit den systematischen theoretischen Erörterungen bietet es sich auch als Lehrbuch an.

Dr. Rita Zellerhoff, Düsseldorf

Literatur:

Abel, J. (2014): Zur „Funktion der Sprache in der geistigen Entwicklung des Kindes“ von A.R. Lurija und F.J. Judowitsch (Deutsch) Taschenbuch – Grin Verlag, 28. Januar 2014

Fiori, A. / Zehnhoff-Dinnesen, G. (2012): Aussprachestörungen. In: Braun, O./Lüdtke, U. (Hrsg.): Sprache und Kommunikation, , Stuttgart: Kohlhammer, 347-363

Grötzbach, H./ Hollenweger Haskell, J./ Iven, C. (2014): CF und ICF-CY in der Sprachtherapie. Umsetzung und Anwendung in der logopädischen Praxis, Idstein, Verlag Schulz-Kirchner, 2. aktual. Auflage.

Montanari, E./Panagiotopoulou, J.A. (2019): Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen. UTB, Stuttgart

Onslow, M./ Packman, A./Harrison, E. (2003): The Lidcombe Program of Early Stuttering  Intervention. A Clinician´s Guide, Austin, TX Pro-Ed. 71-80

Ribeiro von Wersch, A. (2006): Funktionelle Stimmstörungen im Kindesalter. Eine psychologische Vergleichsstudie. Idstein: Schulz-Kirchner

Romonath, R. (2012) Klassifikation. In: Braun, O./Lüdtke, U. (Hrsg.): Sprache und Kommunikation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik , Band 8, 321-330

Romonath, R. (1991): Phonologische Prozesse an sprachauffälligen Kindern. Eine vergleichende Untersuchung an sprachauffälligen und nicht sprachauffälligen Vorschulkindern, Berlin: Marholdt

Scholz, H.-J.: (1969): Zur Phonologie gestammelter Sprache. Die Sprachheilarbeit 14, 1, 4-11

Wachtlin, B./Bohnert, A. (2018): Kindliche Hörstörungen in der Logopädie, Grundlagen, Frühintervention, logopädische Diagnostik und Therapie, Reihe: Forum Logopädie, Stuttgart: Georg Thieme Verlag

Rezension Elke Montanari, Julie A. Panagiotopoulou: Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen

Elke Montanari, Julie A. Panagiotopoulou: Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen. UTB (Stuttgart) 2019. ISBN 978-3-8252-5140-6.
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Thema

Die Zielsetzung des Buches ist umfassend und hat einen hohen didaktischen Anspruch. Es richtet sich an Menschen, die als Erzieher oder als Pädagogen die sprachliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in allen Facetten ihrer Sprachen fördern wollen. Dabei geht es nicht allein um das Erlernen von Bildungssprachen sondern auch um die Herkunftssprachen und Dialekte der Heranwachsenden.

Autorinnen und Entstehungshintergrund

  • Panagiotopoulou hat an der Universität zu Köln einen Lehrstuhl im Kompetenzfeld soziale Ungleichheit und interkulturelle Bildung an der humanwissenschaftlichen Fakultät inne. Wie schon in ihrer Wiff-Expertise hat sie den Fokus auf die mehrsprachige Entwicklung in Kindertageseinrichtungen gelegt.
  • Montanari lehrt an der Universität zu Hildesheim, wo sie Sprachbildungsprofis für mehrsprachige Kitas ausbildet und ein Sprachlernprogramm für geflüchtete Jugendliche entwickelt hat und sich für die Beschulung von Quereisteigern in die Sekundarstufe einsetzt. Ihr Hauptaugenmerk liegt hier in der mehrsprachigen Entwicklung von Schülern.

Aufbau

Das Buch umfasst 149 Seiten und ist in drei Abschnitte gegliedert.

  • Abschnitt A ist von beiden Autorinnen gemeinsam verfasst und geht von der Frage aus: „Wer ist eigentlich mehrsprachig?“
  • Der Abschnitt B, den Panagiotopoulou verantwortet, befasst sich auf 50 Seiten mit dem Thema: Mehrsprachigkeit und Bildung in der KiTa. Der Letze Unterpunkt 4.5 wurde von Catanese verfasst.
  • In Abschnitt C, der von Montanari stammt, geht es um Mehrsprachigkeit und Bildung in der Schule. Er umfasst ebenfalls 50 Seiten.

Zu jedem Kapitel gibt es einen Anhang mit Fragen und Aufgaben, mit denen der Inhalt reflektiert wird. Der Leser wird zu Gruppendiskussionen angeregt. Er wird zu weiteren Literaturrecherchen/​-vergleichen und zur Auseinandersetzung mit Testverfahren aufgefordert sowie zu Unterrichtsbeobachtungen und zur Planung von Unterricht. Die Anregungen sind durch eine Grauabstufung, eine Umrahmung und Zeichen, das wohl einen Stift symbolisieren soll, leicht zu erkennen.

Es schließt sich ein umfängliches 28-seitiges aktuelles Literaturverzeichnis an.

Inhalt

Das Vorwort beleuchtet die institutionelle und individuelle Mehrsprachigkeit im Kontext von Institutionen und Gesellschaft.

Individuelle Mehrsprachigkeit im Kontext von Institutionen und Gesellschaft

Die Frage lautet, welche Sprache ein Kinf für welche Situationen wählt und wie die Mehrsprachigkeit andere Faktoren, wie z.B. die Intelligenz beeinflusst. Sodann werden Formen institutioneller Mehrsprachigkeit aufgeführt, wie z.B. die Europäische Union mit ihren 24 Amtssprachen. Als Beispiel werden auch mehrsprachige Schulen wie die Staatlichen Europaschulen in Berlin oder die Internationalen Kindertagesstätten und Schulen genannt, in denen Fachkräfte, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler mehrsprachig sind.

Die Autorinnen geben einen geschichtlichen Überblick über das Vorliegen mehrsprachiger Gesellschaften. Die Entwicklung von Amtssprachen und von Verkehrssprachen. Auch die Bedeutung von Wissenschaftssprachen versus Vulgärsprachen wird thematisiert. Mehrsprachigkeit in europäischen Gesellschaften wird als ein seit langem bestehendes Phänomen bezeichnet, das durch areale Kontakte, durch autochthone Minderheiten und durch Migrationsbewegungen gespeist wird. Wie sich das Deutsche als Standardsprache und als nützliche überregionale Verkehrssprache entwickelt hat, wird skizziert. Dabei wird problematisiert, dass diese eine Nationalstaatlichkeit unterstützen sollte, was als Einsprachigkeitsideologie kritisiert wird. Die Autorinnen fordern: „Eine reflektierte und demokratische Politik zum Umgang mit individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit ist daher nötig“ (16).

Im Kapitel Ein- und Mehrsprachigkeit in Bildungsinstitutionen geht es zunächst um den Widerspruch, dass sowohl Kinder als auch das Personal in vielen Kindertageseirichtungen mehrsprachig sind, aber diese Mehrsprachigkeit didaktisch kaum genutzt werde. Vielmehr fände nur die Bildungssprache Deutsch neben einigen ausgewählten Fremdsprachen Beachtung. Darin sehen die Autorinnen eine Benachteiligung von Sprechern der Minderheitssprachen wie auch von Dialektsprechern, wodurch eine soziale Rangordnung entstehe, die nicht durch linguistische Kriterien zu erklären sei. Die Exklusion ausgewählter Sprachen negiere die Lebenswirklichkeit zugewanderter Familien. Die Akzeptanz der Mehrsprachigkeit fördere diversitätssensiblen Unterricht, bei dem die Lehrkräfte auch Anregungen von ihren Schülern erhielten.

Im Kapitel zur Heteroglossie als individuelle und institutionelle Praxis geht es um das intralinguale Bündel einer Sprache, mit Varietäten, Registern und Jargons, das auch als innersprachliche Mehrsprachigkeit bezeichnet wird. Während es zu vielen Sprachen syntaktische und morphologische Beschreibungen gibt, die das Erlernen als Fremdsprache ermöglichen, weil sie systematisch in Grammatiken und Wörterbüchern aufgearbeitet sind, gibt es Sprachen, für die das nicht gilt, weil sie von kleinen oder von marginalisierten Gruppen gesprochen werden, oder unterdrückt oder gar verboten werden. Umgekehrt kann sich ein Dialekt auch zu einer Nationalsprache entwickeln, wie etwa das Westmoselfränkische zum Luxemburgischen.

Die Abgrenzung einer Sprache ist also vielschichtig und im Gebrauch nicht eindeutig durchzuhalten. Vielmehr interagieren die Sprachen, was sich an Phänomenen wie dem Code-Switching zeigt. Das Potenzial, mit dem zwei- und mehrsprachige Menschen über mehrere Sprachen hinweg plurilingual kommunizieren, bezeichnen die Autoren als Multikompetenz. Sie ziehen das Fazit: „Das Konzept Heteroglossie und Multikompetenz zielen auf eine Sprachpraxis ab, in den Sprecherinnen und Sprecher sprachliche Mittel aus einem Repertoire für sich einsetzen, das über die einzelne Sprache hinausgeht“ (23).

Teil B: Mehrsprachigkeit und Bildung in der KiTa des Buches wurde von Panagiotopoulou verfasst. Das Kapitel zur Translanguaging: Mehr- und Quersprachigkeit im Erwerb und Gebrauch beginnt mit einem Ausschnitt aus einer Beobachtung im Kita-Alltag: In der Fallstudie äußert sich ein vierjähriges Mädchen über seine Multilingualität, bei der es auch den ripuarischen Dialekt „Kölsch“ zu seinen Sprachen zählt.

Zur Sprachmischung zur translingualen Praxis mehrsprachiger Kinder gehöre, dass mehrsprachige Kinder fähig seien sich auf die Sprachkenntnisse ihrer Gesprächspartner einzustellen.

  • Meine Anmerkung: Dies deckt sich mit Befunden von Kroffke und Rothweiler, die bereits 2004 herausfanden, dass Kinder schon sehr früh fähig sind, unterschiedliche Sprachmodi zu berücksichtigen. Ihre Sprachmischung im zweisprachigen Modus wurde daher nicht als Mangel sondern als Erweiterung ihrer Sprachkompetenz anerkannt.

Es hat offensichtlich ein Paradigmenwechsel stattgefunden, denn wie Panagiotopoulou ebenfalls bestätigt, korreliert der monolinguale versus translinguale Sprachgebrauch mit pragmatischen Bedingungen innerhalb von konkreten Interaktionen und hängt zunehmend auch mit bewussten Entscheidungen zusammen. Dies werde nach Schneider auch in der neueren linguistischen Forschung als eine nützliche Strategie gesehen, mit deren Hilfe sich bilinguale Kinder und Erwachsene effektiver ausdrücken könnten. Das Phänomen der Sprachmischung weise demnach nicht auf eine Sprachstörung hin, sondern stelle eine legitime und sinnvolle Sprachpraxis dar.

Selbst für Menschen mit einer balancierten Mehrsprachigkeit müsse nicht gelten, dass sie ihre Sprachen voneinander getrennt erwerben und verwenden, denn es sei auch möglich, sich diese quersprachig anzueignen. In der neueren liguistischen Forschung werde die Sprachmischung als eine effektive Strategie betrachtet, wie die Autorin an einem Beispiel mit divergierenden Sprachverwendungspraktiken veranschaulicht. Es sei auch nicht zu befürchten, dass es zu einer „doppelten Halbsprachigkeit“ komme, wie durch viele Untersuchugen der letzten zwanzig Jahre belegt worden sei.

Aus soziolinguistischer Perspektive werden selbst Kinder, die ausschließlich eine Landessprache sprechen, aber daneben Dialekte oder Regionalsprachen verwenden, nicht als einsprachig erachtet. Die bevorzugte Nutzung der Landessprache hänge mit einer unterschiedlichen Bewertung der Sprachvarietäten zusammen.

Panagiotopoulou fordert die Beachtung neuer Erkenntnisse zum dynamischen mehr- und quersprachigen Spracherwerb im Kindesalter sowie aktueller Konzepte einer inklusiven mehrsprachigen Erziehung, da nicht nur die standardisierten Sprachformen lernförderlich seien.

Die Autorin beschreibt im Kapitel zur Quersprachigkeit: zur translingualen Logik des dynamischen Mehrspracherwerbs den dynamischen und komplementären Sprachgebrauch mehrsprachiger Kinder, bei dem diese mit Sprache spielen, sie mischen und wie es Günther List beschreibt „quer durch sie hindurch“ handeln lernen.

  • Meine Anmerkung: Der Terminus Quersprachigkeit wurde bereits 2001 von dem Herausgeber-Ehepaar Gudula und Günther List eingeführt und von Frau Prof. Dr. List am Lehrstuhl Heilpädagogische Psychologie und Psychiatrie der Universität zu Köln in Bezug auf die Gebärdensprache vertreten.

Für Gudula List stehen dabei metasprachliche und metakognitive Leistungen im Vordergrund. Orientiert man sich an der heteroglossischen Realität in Migrationgesellschaften und an den realen Bedingungen mehrsprachiger Familienorganisationen, so sollten additive Vorstellungen des Spracherwerbs überwunden werden. Es geht also um einen dynamischen Mehrspracherwerb. Desweiteren werden die theoretischen Konzepte des „translanguaging“ und „polylingual languaging“ referiert, welche die Betrachtung der Sprache als soziale Praxis und nicht nur als System voraussetzen. Im Gegensatz hierzu problematisiert Panagiotopoulou eine institutionelle Sprachenpolitik wie sie z.B. in der Schweiz und in Luxemburg stattfindet, weil diese die neueren Erkenntnisse über den dynamischen mehr- und quersprachigen Erwerb im Kindesalter ignoriere.

Im Kapitel „Auf dem Weg zu einer Didaktik der Mehr- und Quersprachigkeit“ referiert Panagiotopoulou einen inklusiven und alltagsintegrierten Ansatz, bei dem alle Sprachen der Kinder zum Einsatz kommen und damit erfahrbar werden. Es gelte ein Handeln quer durch die in der Institution vorgefundenen Sprachen zu fördern.

Es werden didaktische Ansätze, wie die interkulturelle mehrsprachige Deutschdidaktik nach Oomen-Welke und eine Didaktik der Quersprachigkeit in Kindertageseinrichtungen nach Gudula List erörtert. Für die frühpädagogische Praxis wird angemerkt, dass es implizite Sprachlernprozesse gibt, die möglicherweise für Sprache spezialisierte Lernmechanismen aufbauen. Eine natürliche quersprachige Praxis in zugewanderten Familien kann also durchaus als lernförderlich angesehen werden, denn die Kinder erwerben in diesem Kontext ein umfassendes linguistisches Repertoire, das eine Plattform für die Entwicklung quersprachiger Kompetenz darstellt. Dagegen gelte es eine pädagogische Praxis zu überwinden, die ausschließlich die Standardvarietät des Deutschen elaboriere.

Translanguaging in der frühpädagogischen Praxis

Nach diesem Konzept von Garcia/​Kleifgen werden alle Kinder als angehende Mehrsprachige eingeschätzt, und sie erleben sich in ihrer Identitätsbildung auch als solche. Es wird von einem Experiment berichtet, in dem sich die Forscherinnen und Forscher auf die effektive Kommunikation der Kinder einließen. Diese lernten, effektiv zu kommunizieren, indem sie ihr gesamtes Repertoire nutzten. Um herauszufinden, wie durch das Translinguaging die sprachlichen Fähigkeiten erweitert werden können, wird empfohlen in Feldstudien die Translanguaging-Praktiken im Kontext mehrsprachiger Tageseinrichtungen empirisch zu erfassen und zu dokumentieren. Panagiotopoulou zeigt an ausgewählten Befunden aus Feldstudien positive Aspekte bezüglich der kommunikativen Fähigkeiten sowie der Identitätsentwicklung der Kinder. Sie durchkreuzten die sprachseparierende Praxis der pädagogischen Fachkräfte. Außerdem beginne durch die Praktiken des Translanguaging eine frühe Einführung in die Welt der Schrift.

Mit dem Kapitel Mehrsprachigkeit und Literacy – gelebte Mehrschriftlichkeit leitet Panagiotopoulou einen Ausschnitt einer Fallstudie ein, in dem sie eine Bilderbuchbetrachtung der zweieinhalbjährigen Lena beschreibt. Diese ist schon in der Lage sich auf die Sprachen ihrer unterschiedlichen Gesprächspartner einzustellen, indem sie mit ihrer Großmutter am Telefon monolingual-griechisch und mit ihren Eltern monolingual-deutsch aber auch translingual deutsch-griechisch spräche.

Frühe Literacypraktiken mehrsprachiger Kinder: von der Bilderbuchbetrachtung bis zur Verschriftlichtung erster Sätze

Panagiotopoulou erläutert die wortgeschichtliche Entwicklung des Terminus Literalität und des Synonyms Litracy. Sie bevorzugt den letzteren, weil er im internationalen Diskurs anschlussfähiger sei. Sie bezieht sich auf ein erweitertes Verständnis im Sinne Ulichs, der im frühpädagogischen Diskurs (früh-)kindliche Erfahrungen und Fähigkeiten rund um die Buch-, Erzähl-, Reim- und Schriftkultur umfasst.

Die Beobachtungen der Schreibentwicklung des Kindes Lena über mehrere Jahre zeigt, dass es möglich ist, auch mit unterschiedlichen Schriftsystemen zu kommunizieren. Die Autorin plädiert dafür, mit Feldstudien „das Ideal einer monolingualen Einführung in die Welt der Schriftlichkeit zu hinterfragen.“ (48) In ihrer Feldstudie zeigt die Autorin auf, dass eine plurilinguale Aneignung der Schrift möglich ist, denn:

  • Frühkindliche Erfahrungen mit Mehrschriftlichkeit basieren auf einer sprachübergreifenden Verflechtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Kontext von multilingualen Familien sowie im Rahmen von (multi-)literalen Gesellschaften“(49).

Allerdings werde eine mehrsprachige Sozialisation heute noch mit einer Bildungsferne und mit fehlenden schriftkulturellen Erfahrungen assoziiert.

Über (fehlende) Literacy-Erfahrungen junger Kinder aus zugewanderten Familien

Dieses Kapitel kann erschrecken, denn man erfährt, wie voreingenommen über die Literacy-Praktiken von zugewanderten Menschengruppen geurteilt wird. Über einen besonders krassen Fall aus Großbritannien wird berichtet, dass Mütter aus Bangladesch, die ihren Kindern zu Hause das Lesen beibrachten, von den Lehrkräften ihrer Kinder als „illiterate“ bezeichnet wurden. Die unterstellten fehlenden Literacy-Praktiken sollten für mangelnde bildungssprachliche Fähigkeiten verantwortlich sein.

Über (fehlende) bildungssprachliche Fähigkeiten junger Kinder aus zugewanderten Familien

„Bildungssprache“ ist eine Bezeichnung für ein Konstrukt, das nicht klar fassbar ist, weil spezifische Instrumente zur inhaltlichen Erfassung im Vorschul- umd frühen Schulalter noch fehlen. Es wird erörtert, dass sich die „Cognitiv Academic Language Profiency“, wie sie Cummins beschreibt, während der schulischen Ausbildung entwickele, während die Bildungssprache Deutsch auf die familiale Sozialisation zurückgeführt werde. Insofern seien die akademische Sprache und die Bildungssprache unterschiedliche Konstrukte.

Eine defizitorientierte Betrachtung von Kindern aus zugewanderten Familien bewirke, dass ihre bildungssprachlichen Fähigkeiten falsch eingeschätzt würden. Da das mehrsprachige Aufwachsen junger Kinder insgesamt ein weitgehend unerforschtes Gebiet sei, wisse man zu wenig über Familien und KiTas, die auch mehrsprachige Literacy-Erfahrungen ermöglichten, und so würden junge Kinder ohne Berücksichtigung ihrer Sozialisationsbedingungen pauschal einer Risikogruppe zugeteilt.

In der aktuellen Forschungsliteratur würden Schüler(innen) mit Zuwanderungshintergrund als besonders gefährdete Gruppe hinsichtlich des Erwerbs bildungssprachlicher Fähigkeiten eingestuft. Es sei daher für die Forscher erstaunlich, dass neuere Studien belegen, dass in einigen Klassen mehrsprachige Schüler diesbezüglich besser abschneiden als ihre einsprachigen Mitschüler.

Weitere Studien belegen, dass Kinder in einem natürlichen nichtschulischen Umfeld die als bildungssprachlich deklarierten Kompetenzen erwerben können. Hier bestehe die Möglichkeit, auch in medial mündlichen Lernsettings, konzeptionell schriftsprachliche Erfahrungen zu sammeln.

Von institutionellen Bedingungen und von den konkreten Bemühungen der pädagogischen Fachkräfte, die qualitative Konzepte entwickelten und im pädagogischen Alltag umsetzten, hinge es schließlich ab, dass Kinder schon früh bildungssprachliche Konzepte entwickelten.

Multi- und Pluriliteracy-Ansätze zur Förderung konzeptioneller Mehrschriftlichkeit im KiTa-Alltag

Panagiotopoulou berichtet von einer ausgeprägten Defizitorientierung bei der Frühförderung der Schriftlichkeit mehrsprachiger Kinder, die nicht auf das einsprachige Lesen reduziert sein sollte. Vielmehr wird für den vorschulischen Bereich von Hoppenstedt eine Multiliteralitätsdidaktik vorgeschlagen, bei der kein Sprachunterricht im herkömmlichen Sinne stattfände, sondern vorwiegend Sprachbegegnungen evoziert werden sollten. Durch die mündliche Praxis sollte es möglich sein, kozeptionelle Schriftlichkeit zu erwerben. Mündliche Literalität könne durch pädagogische Interaktionen angeregt werden, bei denen Kinder zu Phantasieleistungen bei der Konstruktion von Geschichten angeregt würden.

Angehende Mehrsprachigkeit: Beobachtung und Dokumentation

Auch dieses Kapitel beginnt mit zwei Episoden der Fallstudie des mehrsprachigen Kindes Lena, diesmal im Kindergartenalltag. Im ersten Beispiel ist die Zweieinhalbjährige in der Lage, sich selbst zu korrigieren. Im zweiten Beispiel zeigt die Vierjährige eine deutliche Sprachbewusstheit, wie ein Phantasiespiel mit Sprache zeigt.

Kinder als angehende Mehrsprachige: zur Bedeutung metasprachlicher Fähigkeiten

Kinder sind schon sehr früh in der Lage, sich auf die sprachlichen Fähigkeiten ihres Gegenübers einzustellen, etwa, indem sie sich gegenüber Erwachsenen syntaktisch komplexer äußern als im Gespräch mit kleinen Kindern. Und sie sind sich sehr wohl ihrer Sprachen oder Sprachregister bewusst. Die Beispiele zeigen, dass die Konfrontation mit zwei Sprachsystemen die metasprachliche Kompetenz fördert. Panagiotopoulou fordert „Sprachbiographien mehrsprachig aufwachsender Kinder nicht defizitär, sondern ressourcenorientiert zu erfassen“ (65f).

Einsprachige Feststellungsdiagnostik für mehrsprachige Vorschulkinder?

Es wird problematisiert, dass mehrsprachige Kinder mit Feststellungsverfahren getestet werden, die für monolinguale Kinder entwickelt wurden. Dabei werde nicht berücksichtigt, dass z.B. der Wortschatz sich in unterschiedlichen Domänen ausbilde, die nicht deckungsgleich in den Sprachen der Kinder seien. Einsprachige Tests wären daher nicht geeignet, das gesamte linguistische Repertoir der Kinder zu erfassen und komme daher zur Fehleinschätzung einer nicht normgerechten Entwicklung. Lengyel warnt vor solchen Fehldiagnosen aufgrund einer verbreiteten Dominanz der monolingualen Sprachkompetenz, bei der spezifisch mehrsprachige Sprachgebrauchsformen wie das Code-Switching, das Übersetzen und das Mischen von Sprachen nicht einbezogen würden. Es wird empfohlen die Eltern zu befragen und anstelle standardisierter Testverfahren in der frühen Kindheit eine systematische Beobachtung im Kontext von Kindertageseinrichtungen durchzuführen.

Dokumentation mehrsprachiger Entwicklung anhand von Elterngesprächen und Beobachtungen im KiTa-Alltag

Es werden Formate der teilnehmenden und alltagsintegrierten Beobachtung als sinnvoll erachtet. Zur Beobachtung der Interaktionen werden auch Videoaufnahmen vorgeschlagen, um geeignete Bildungsangebote für einzelne Kinder oder für die Arbeit in einer Kleingruppe zu gestalten.

Der Austausch mit den Eltern wird als wichtig angesehen, wobei zu berücksichtigen sei, dass diese z.B. nicht immer über die grammatische Entwicklung ihrer Kinder Auskunft geben könnten, weil ihnen das nötige Beschreibungswissen fehle. Auch stellen sich manche Probleme, wie etwa die Pluralbildung im Deutschen nicht in anderen Sprachen, wie z.B. im Türkischen. Die Eltern werden als mehrsprachige Vorbilder gesehen, weshalb in der Zusammenarbeit ihre Mehrsprachigkeit als Recource wertgeschätzt werden sollte. Anstelle von Pauschalisierungen und Etikettierungen über angeblich nicht sprachfreundliche familiale Bedingungen wären genaue Informationen über die konkreten Bedingungen hilfreich.

Sprachenporträts – aus der Perspektive mehrsprachiger Kinder

Es wird die Methode des Sprachenporträts nach Scharff Rethfeld vorgestellt, als ein Angebot, sprachliches Erleben kreativ zu visualisieren und somit Mehrsprachigkeit als selbstverständliches Element einer Gruppe oder eins Kindes abzubilden. An zwei Beispielen wird jedoch gezeigt, das diese Methode im Falle der fünfjährigen Lena nicht verfängt. Im Falle eines fünfjährigem Jungen werden Probleme sichtbar, die durch ein Sprachverbot entstanden sein könnten. Erzieherinen sollten darauf vorbereitet sein, dass diese Methode auch diskriminierende Erfahrungen sowie Traumatisierungen evozieren könne. In solchen Fällen dürften Kinder damit nicht allein gelassen werden.

Sprachbiographische Arbeit im KiTa-Alltag mit dem Europäischen Sprachenportfolio (von Giovanni Cicero Catanese)

Neben dem Sprachenportfolio für Schulkinder wird auch ein Portfolio für KiTa-Kinder vorgeschlagen, bei dem der Gestaltung eines Dossiers, einer Schatzkiste, eine besondere Bedeutung für das Bewusstwerden von Sprache zukommt.

Abschnitt C. Mehrsprachigkeit und Bildung in der Schule

(dieser Abschnitt wurde von Montanari verfasst.)

Im Kapitel zur Diagnose im Schulalter gibt Montanari zunächst eine Übersicht über den Aufbau des Kapitels. Darauf aufbauend erklärt Sie im Kapitel „Verteilung sprachlicher Handlungen auf Handlungsbereiche: das Complementarity Principle“ das Komplementaritätsprinzip. Es bedeutet, dass sich der Sprachgebrauch eines mehrsprachigen Menschen in unterschiedlichen Domänen auf seine unterschiedlichen Sprachen verteilt, was dazu führt, dass die verstärkte Verwendung in einem Handlungsbereich auch in diesem zu einer besseren Beherrschung der Sprache führt. Andersherum kann sich die Sprache, die nur in wenigen Feldern zum Tragen kommt abschleifen, was als Attrition bezeichnet wird. Es gibt also ein Kontinuum von Sprachmodi, vom einsprachigen Gebrauch über den gelegentlich mehrsprachigen bis zum multiligualen Gebrauch der Sprachen.

Ob die Sprachen angemessen beherrscht werden, zeigt sich an unterschiedlichen Kriterien, wie: Flüssigkeit, Aussprache, syntaktische Komplexität und Lexik. Je nach Anforderungssituation gibt es unterschiedliche Kriterien. Da es jungen Menschen leichter fällt weitgehend akzentfrei zu sprechen wird die Flüssigkeit ihres Sprachgebrauchs gegenüber älteren Menschen, denen das tendenziell schwerer fällt, manchmal überschätzt.

Zur Problematik des Vergleichens

Bei der Datenerhebung sollte beachtet werden, in welcher Domäne das Kind gewohnt ist eine geforderte Leistung zu erbringen. So berichtet Montanari von einem Kind, dass fähig war, eine Erzählung nach Abbildungen auf Deutsch ganz gut zu meistern, während das in seiner Primärsprache nicht gelang, obwohl es mit seinen Eltern in der Primärsprache kommunizierte. Möglicherweise lag das an den spezifischen Sprachanforderungen des typischen Kindergarten-Formates.

Es ergibt sich die Frage, ob bei Vergleichen bei den mehrsprachigen Probanden tatsächlich das gesamte sprachliche Wissen einbezogen wird. Dennoch kann bei sprachlichen Auffälligkeiten auch ein monolingualer Test sinnvoll sein, um z.B. eine Hörschädigung auszuschließen.

Mehrsprachige Diagnoseverfahren

Es werden mehrsprachige Bildbenennugsverfahren vorgestellt und kritisch hinterfragt, weil eine eins zu eins-Übertragung des Wortschatzes nicht immer möglich sei, da es in einigen Sprachen semantische Lücken gäbe; zum Beispiel verfügten das Türkische oder das Italienische über keine adäquate Bezeichnung für den Oberbegriff ‚Geschirr‘. Der Wortschatz der Mehrsprachigen sei in unterschiedlichem Maße auf ihre Sprachen verteilt. In der Summe sei es aber durchaus möglich, dass eine individuelle Mehrsprachige einen größeren Wortschatz aufweise als einsprachige Klassenkameradinnen. Sodann geht es um Erzählungen nach Abbildungen. Das multilinguale Assessment wurde von Gagarina et al. 2012 für Kinder von drei bis neun Jahren in fünfzehn unerschiedlichen Sprachen entwickelt. Dafür wurden kulturübergreifende Bildsequenzen als Erzählanlässe gewählt. Das Verfahren ermöglicht sehr gute Gruppenvergleiche und ist geeignet, Erzählfähigkeiten in einen multikompetenten Sprachgebrauch zu erfassen. Desweiteren beschreibt die Autorin einen umfassenden Dokumentationsbogen des sächsischen Bildungsinstitut, in dem Musterformulierungen angeboten werden, mit denen eine vierstufige Niveaubeschreibung über das Interesse am Sprechen bei Deutsch als Herkunfts- oder als Zweitsprache möglich ist. Zukünftige Handlungsfelder für die Diagnose im Schulalter sieht Montanari im Bereich der Sprachmittlung und beim multikompetenten mehrsprachigen Handeln, bei dem der Text aus mehreren Sprachen komponiert wird, um seine Qualität zu steigern. Diagnostische Verfahren, die Mehrsprachigkeit aus einer multikompetenten Perspektive betrachten, gib es zurzeit erst wenige. Sie stellen demnach ein Forschungs- und Entwicklungsdesiderat dar.

Mehrsprachigkeit im Unterricht

Es stellt sich die Frage, wie ein guter Umgang mit Mehrspachigkeit im Unterricht gefunden werden kann, der gleichzeitig noch genügend Zeit für die Aneignung der Unterrichtssprache bietet.

Grundsätzliche Überlegungen

Lehrer können nicht alle Sprachen ihrer Schüler kennen, denn derer gibt es zu viele, allerdings können sie im Unterrichtsgespräch Freiräume für multikompetentes Handeln schaffen. Die Beherrschung der Schulsprachen ist jedoch für die Bildungschancen unerlässlich. Dafür müssen die Lehrkräfte die Aneignung didaktisch gestalten und zwar in allen Lernbereichen, denn das Fach Deutsch muss neben Sprache und Literatur eine Vielzahl weiterer Kompetenzen fördern. Außerdem gilt es fachspezifisch sprachliche Anforderungen zu erfüllen, weshalb alle Lehrkräfte diese Aufgabe für ihr Fach leisten müssen. Dabei kann es notwendig sein, dass die Sprachen der Schüler in das Fachlernen einbezogen werden. Gegen den Einsatz der Familiensprache der Schüler spricht der Zeitverlust für die Unterrichtssprache. Bei Studien zu Niederländisch-Türkisch-sprachigem Unterricht, bei dem der Anteil des Niederländischen 75 % betrug, zeigte sich im Vergleich zu monolingual Niederländisch jedoch kein Defizit. Werden im Unterricht Familiensprachen eingesetzt, so gelingt es den Schülern leichter, an den Schulstoff anzuschließen. Ein wichtiger Aspekt ist ferner die Tatsache, dass ihre Sprachen respektiert werden.

Praxis des mehrsprachigen Unterrichts

Mehrsprachigen Schülern ist es besonders wichtig, genügend Chancen zu haben sich in den Unterrichtssprachen zu verständigen, allerdings erachten sie es als hilfreich sich bei Verstehensproblemen mehrsprachig austauschen zu können. Montanari fand eine systematische Anwendung der Mehrsprachigkeit bei Erklärungen und Nachfragen sowie beim Zählen und Rechnen heraus. Wenn der Anschluss an die Unterrichtskommunikation nicht gelingt, werde häufig die Erstsprache eingesetzt. In den Curricula hat die Mehrsprachigkeit nicht den gleichen Stellenwert wie die Unterrichtssprache Deutsch. In den Niedersächsischen Richtlinien, die hier beispielhaft untersucht wurden, werden Schüler mit nicht deutschen Erstsprachen als förderungsbedürftig angesehen. Die Sprachen von Sprachminderheiten werden dienend einbezogen, aber nicht zum Gegenstand des Unterrichts gemacht.

Als ein positives Beispiel schildert die Autorin das Curriculum von Krumm und Reich (2011), das bis in die Oberstufe Mehrsprachigkeit zum Unterrichtsgegenstand macht und Strategien zur Aneignung und zum Vergleich der Sprachen vermittelt. Montanari erachtet das Curriculum als eine systematische Ergänzung zu vorhandenen Lehrplänen. Mit Translanguaging wird ein Konzept vorgestellt, bei dem die Teilnehmer all ihre sprachlichen Ressourcen einsetzen dürfen, um als Ziel so viel Verständigung wie möglich zu erreichen. Es wäre hierzu notwendig, dass sich das Kollegium einer Schule auf grundlegende Prinzipien einigt. So sollte die Mehrsprachigkeit der Schüler nicht nur auf Wertschätzung beschränkt sein, sondern als Potenzial angesehen werden, um als Bildungswerkzeug aktiv einbezogen und ausgebaut zu werden. Dies wäre dann durch eine mehrsprachige Sprachenlandschaft sichtbar, etwa durch mehrsprachige Informationen und Beschriftungen im Schulgebäude. Dabei sollte die Gleichwertigkeit der Sprachen gewährt sein.

In der mehrsprachigen Unterrichtsgestaltung wird das sprachliche Wissen aus dem Fremdsprachenunterricht sowie das aus der Umgebung der Schüler mündlich oder schriftlich eingebracht. Mögliche sprachliche Schwierigkeiten sollten von der Lehrkraft antizipiert werden. Der Unterricht könne zwischen ein- und mehrsprachigen Phasen wechseln. Im Unterrichtsraum soll die Mehrsprachigkeit der Schüler für alle sichtbar sein. Es wäre möglich, dass sich Schüler mit gleicher Sprache zusammensetzen um sich auszutauschen. Denkbar sei der Einsatz von Übersetzungshilfen per App oder Wörterbüchern. Wandplakate mit einem zentralen Fachwortschatz in den Sprachen der Schüler könnten den bildungssprachlichen Wortschatz in ihren Herkunftssprachen erweitern. Außerdem könnten webbasiert Texte aus unterschiedlichen Sprachen zu den Unterrichtsthemen eingebracht werden und für Referate oder Präsentationen genutzt werden.

Im Folgenden wird an zwei Unterrichtsskizzen gezeigt, wie Eltern in die Bildungarbeit einbezogen werden können, indem sie z.B. Kinderliteratur in ihren Sprachen vorlesen.

Als Alternative könnten auch Medien eingesetzt werden. Die Schüler erarbeiten sich die häufigen und wichtigen Wörter des Textes auf Deutsch und in der Originalsprache und berichten über ihre Gefühle, die der Text in ihnen auslöst. Zur Ergebnissicherung wird der Text zusammengefasst und es wird ein mehrsprachiger Index der wichtigen Wörter erstellt. Eine weitere Unterrichtsskizze zeigt, wie Informationen aus einem Sachtext entnommen werden. Eine Besonderheit ist hier die Suche nach verwandten Wörtern (Kognaten).

Auf einen Blick

Die besondere Herausforderung für Lehrende besteht in der Balance, Freiräumen für die Mehrsprachigkeit und gleichzeitig genügend Raum für die Aneignung des Unterrichtsmediums zu schaffen. Besonders, wenn die Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler noch gering sind, sei es förderlich, ihr gesamtes Sprachrepertoir zum Lernen einzusetzen.

Mehrschriftlichkeit, Bi- und Multiliteralität im Schulalter

Montanari vertritt mit dem Terminus Literalität ein weitgefasstes sprachliches Handeln, das neben dem Schreiben und Lesen auch die Beschäftigung mit Bildern und Zeichen umfasst und das die Nutzung der sozialen Medien einbezieht sowie das Verstehen eines Textes oder eines Films.

Konzeptionelle Überlegungen – Literalität und soziale Teilhabe

Literalität ist eng mit gesellschaftlicher Teilhabe verknüpft, und gilt in literalen Gesellschaften als eine Voraussetzung für den Zugang zu Bildung, Arbeit und gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen. In allen für die Lebenswelt wichtigen Sprachen auch schreiben und lesen zu können stellt daher einen zentralen Bestandeil der mehrsprachigen Entwicklung dar.

Bereits die ersten Anfänge eigenen Schreibens und das Zuhören beim Vorlesen gehören zur Schriftlichkeit. Sie umfasst den Umgang mit allen schriftbasierten Medien, sowohl das Verfassen als auch die Rezeption. Die Lesefähigkeit gehört also ebenfalls zur Schriftlichkeit und beinhaltet die Fähigkeit, Buchstabenfogen zu erkennen, Worte und propositonale Einheiten zu bilden und daraus Sinn zu entnehmen.

Der Terminus Mehrschriftlichkeit (nach Woerfel/​Riehl) umfasst aber darüberhinaus die Kompetenz, sich im Schriftlichen in mehrern Sprachen ausdrücken zu können, schließt also die Textkompetenz mit ein. Mehrschriftliches Handeln baut auf der Kenntnis von Schriftsystemen auf, und beinhaltet darüber hinaus die Fähigkeit mit Texten jeder Art in mehrern Sprachen und Schriften angemessen zu handeln. Dazu gehört es, Texte sachgerecht und angemessen erfassen zu können. Wichtig wäre hierzu, Textsorten mit ihren spezifischen Besonderheiten in den jeweiligen Gesellschaften und Sprachen zu kennen.

Praktiken literalen Handelns im 21. Jahrhundert

Es gibt auch heute noch Zeugnisse literaler Handlungen, wie Dokumente, Verträge, Bescheinigungen, die das geschriebene Wort über die Zeit und über Ortsgrenzen hinaus konservieren. Aber selbst Dokumente werden heute oft schon zusätzlich digital festgehalten.

Und Kinder nutzen neue Kommunikationsformen, um sich mit ihren Freunden auszutauschen. Sie kommunizieren manchmal sogar mehrmals täglich im Internet via App oder pdf und dass selbst dann, wenn sie sich schon am selben Tag gesehen haben. Auch sehr junge Kinder nutzen multimodale Textsorten auf der Basis von Video und Audio. Ciberliteracies bringen durch Texte, Zeichen und Bildlichkeit neue literale Gestaltungsmöglichkeiten. Die verwendeten sprachlichen Symbole enthalten Emoticons oder Kombinationen aus Satzzeichen, die einen Gefühlsausdruck wiedergeben können. Auch die Anforderungen an die Syntax verändern sich; in Suchanfragen gibt es unvollständige Sätze oder Wörter. Im Chat ist eine Simularität, das Plaudern in Echtzeit, möglich.

Aneignung

Die Literalität I beginnt schon lange vor der Einschulung mit einer Produktion von Schriftzeichen und der Umsetzung mündlicher Sprache in Schrift und umgekehrt, wie etwa beim Vorlesen. Dabei können erste Erfahrungen mit Texten gewonnen werden.

Die Literalität II umfasst orthographische Strukturen beim Lesen und Schreiben sowie den Aufbau schriftlicher Textualität und der Sprachbewusstheit, was in der Regel im strukturierten Unterricht geschieht. Mit Ausnahme der bilingualen Schulen erfolgt die literale Bildung vorwiegend monolingual. Die schriftliche Bildung in den Familiensprachen erfolgt überwiegend im herkunftssprachlichen Unterricht oder in außerunterrichtlichen Angeboten.

Wenn schon eine Schrift bekannt ist: Transfer

Die Geschwindigkeit des Lesens hängt davon ab, wie schnell erkannt wurde, auf welche Weise die Sprache im Schriftsystem kodiert wird, wie also der Zusammenhang von Zeichen, lautlichen Eigenschaften und Bedeutung zu verstehen ist. Dieses Wissen ist auf andere Sprachen transferierbar. Außerdem gibt es über Texte noch das universale Wissen, dass sie Handlungsstrukturen haben, Bedeutungen (Symbolfelder) entwickeln, die Phantasie anregen und sprachlich konstituierte Zusammenhänge jenseits der wahrnehmbaren Realität erzeugen können.

Die Verwendung der lateinischen Alphabetschrift dürfte für italienische und türkische Kinder kein Problem darstellen. Schüler, die mit dem kyrillischen Alphabet literalisiert wurden, haben es da schon etwas schwieriger. Chinesisch und Japanisch sind keine Alphabetschriften, jedoch gibt es auch hier z.B. bei Namen die Verwendungen einer Alphabetschrift, sodass ebenfalls ein Transfer möglich wäre.

Montanari hat schon nach kurzer Beschulung festgestellt, dass Texte in der neuen Schrift verfasst werden, wofür sie ein Beispiel aus ihren Beobachtungen bringt, das schon die Verwendung von Interpunktionszeichen und eine korrekte Majuskelschreibung aufweist.

Mehrsprachliches literales Handeln in der Schule

Wie kann mehrsprachiges schriftliches Handeln in allen Sprachen im Unterricht Platz finden? Es geht darum, das Lehrende den Lernenden den Freiraum schaffen, in dem sie selbstgesteuert mehrschriftlich agieren können.

Ansätze für vielsprachige Lerngruppen Translanguaging und Mehrschriftlichkeit

In Untersuchungen mit amerikanischen Viertklässlern wurde gezeigt, dass der Einbezug aller Sprachen der Kinder ihnen hilft, komplexe Texte zu verfassen. Ihre Texte in der Unterrichtssprache waren hochwertiger, wenn sie beim Schreibprozess mehrsprachig agieren konnten, besonders, wenn die Verwendung ihrer Familiensprache angeregt wurde. Außerdem werden sechs Strategien aufgeführt, um Erstklässler zur Mehrschriftlichkeit anzuregen, z.B. soll ein mehrsprachiges Scaffolding aufgebaut werden, um einen Text besser zu verstehen.

Der Multiliteralitätenansatz

Der Multiliteralitätenansatz geht auf eine interdisziplinäre Gruppe von Linguistinnen und Linguisten zurück – der New London Group (1996). Sie fordert als Antwort auf die ethnische, kulturelle und sprachliche Heterogenität der Schülerschaft einen neuen Umgang mit Literalität. Dabei wird neben den visuellen und auditiven Kommunikationsmitteln der Blick auch auf das Verhalten und auf Gesten und Gebärden gerichtet. Es wird der Umgang mit Pluralität gefordert, bei der auch Texte in neuen Formen, Medien und Präsentationsformen einbezogen werden, damit die Heranwachsenden zunehmend an sozialen Praktiken teilhaben können. Die Perspektive der Gruppe ist emanzipatorisch und sozialpolitisch und hat zum Ziel das Empowerment der Schülerinnen und Schüler als kompetente und kritisch Nutzende vielfältiger Literalitäten. In der pädagogischen Umsetzung sind die folgenden vier Grundüberlegungen handlungsleitend: der situative Ansatz, die explizite Erläuterung, die kritische Rahmung und die Reflexion der Praxis.

Montanari beschreibt diesen Ansatz sehr ausführlich und überzeugend an einem Beispiel, das von Studierenden der Stiftung Universität Hildesheim 2018 im Seminar „Multiliterarcies“ entwickelt wurde. Das Ziel war, in einer kritischen Rahmung bei Lernenden zum Thema Wohnformen das Gelernte zu hinterfragen und in Bezug zu gesellschaftlichen Zusammenhängen zu stellen. Die im Folgenden beschriebenen Ansätze der Multilinguale Schreibdidaktik und der Talking books werden ausgelassen.

Ansätze für zweisprachige Lerngruppen

Für ein- und zweisprachige Kinder sind die Hürden zur Aneignung der Orthographie gleichermaßen hoch und betreffen beispielsweise Dehnungs- und Schärfungsschreibung. Die Kontrastivhypothese geht davon aus, dass Sprachunterschiede für Fehler verantwortlich sein könnten. Wenn z.B. Vokale zwischen Konsonantenclustern eingefügt würden, könnte dies daran liegen, dass in einigen Sprachen Konsonantencluster eher selten vorkommen. Die Reliabilität der Befunde wird allerdings angezweifelt, weil die Studien nicht immer den sozioökonomischen Status der Eltern kontrollieren.

Herkunftssprachliche Literalitätsaneignung

Im herkunftssprachlichen Unterricht ermöglichen oft herkunftssprachliche Lehrkräfte die Literalisierung in den Herkunftssprachen der Schüler. Eltern wünschen sich für ihre Kinder, dass diese später Chancen in einer mehrsprachigen Arbeitswelt wahrnehmen können. Neben den Schulen bieten auch Vereine in privater oder konfessioneller Trägerschaft die Schriftaneignung an, und zwar oft schon vor dem Schulstart in Deutschland, weil es in den Herkunftsländern oftmals üblich ist, dass Kinder schon vor dem sechsten Lebensjahr eingeschult werden. Die Angebote sind außerordentlich heterogen.

Mehrschriftlichkeit im Unterricht CLIL

Die Abkürzung CLIL (Content and Language Integrated Learning) steht für sprachenintegrierenden Sachfachunterricht. Dem mehrschriftlichen Unterricht kommt hier eine besondere Bedeutung zu, weil Texte und Medien im Unterricht zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Dabei gilt es, Mikro- und Makrostrukturen von Texten zu vergleichen.

Zweisprachige Alphabetisierung als koordinierte Alphabetisierung

Bei der koordinierten Alphabetisierung werden zwei Schriften simultan im Tandemunterricht von zwei muttersprachlichen Lehrpersonen erarbeitet. So werden lautliche und graphemische Einheiten koordiniert eingeführt und miteinander verglichen. An den staatlichen Europaschulen in Berlin und an bilingualen Schulen gibt es passende Unterrichtsmedien.

Im Fazit fassen die Autoren zusammne, dass eine Umsetzung mehrschriftlicher und multiliteraler Ansätze allen Beteiligten zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung verhelfen kann. Dazu können Lehrpersonen systematisch Freiräume schaffen, ihre eigene Mehrschriftlichkeit einbringen und kontinuierlich im Unterricht verankern.

Diskussion

Das vorliegende Buch gibt einen umfassenden Überblick über die sprachwissenschaftliche Forschung zur mehrsprachigen Bildung in Kitas und Schulen und räumt mit voreingenommenen Vorstellungen auf. Mehrsprachigkeit ist demnach kein Defizit, sondern eine Ressource, die nicht nur für mehrsprachige sondern auch für monolingual deutschsprachige Kinder von Vorteil ist. Panagiotopoulou zeigt mit Multi- und Pluriliteracy kreative Ansätze der Mehr- und Quersprachigkeit auf, mit denen sie zur Förderung konzeptioneller Schriftlichkeit im KiTa-Alltag beiträgt. Beiträge aus ihren Langzeitstudien überzeugen. Ihre kritische Auseinandersetzung gegenüber der einsprachigen Feststellungsdiagnostik bei mehrsprachigen Schülern ist sehr gut nachvollziehbar. Hier hätte ich mir noch die Würdigung der sprachlichen Meilensteine nach Rosemary Tracy gewünscht.

Elke Montanari klärt überzeugend auf, dass der Wortschatz mehrsprachiger Kinder nicht gleichmäßig auf ihre Sprachen verteilt ist, sondern nach dem Complementary Principle sich ergänzt, sodass der Wortschatz eines Mehrsprachigen in summa größer sein kann als bei Monolingualen. Sie problematisiert zu Recht das Vergleichen, weil es bei Mehrprachigen oft nicht möglich ist, den gesamten Umfang ihres sprachlichen Wissens zu erfassen.

Mir gefällt besonders gut, das ihre didaktischen Überlegungen internationale Ansätze aufgreifen, wie beispielsweise den Ansatz der New London Group, die das emanzipatorische und sozialpolitische Ziel verfolgt, das Empowerment der Schülerinnen und Schüler als kompetente und kritisch Nutzende in vielfältigen Literalitäten zu stützen.

Montanari zeigt unterschiedliche Ansätze zu mehr schriftlichen literalen Handeln auf. Bei den schulischen Angeboten hätte ich mir eine ausführlichere Besprechung des Konzeptes der Europaschulen gewünscht. Nicht berücksichtigt wurde das Bund-Länder-Programm FörMig aus 2005.

Fazit

Das Buch vermittelt relevante und aktuelle Forschungsergebnisse. Es ist anspruchsvoll geschrieben aber dennoch gut zu lesen, weil die Autorinnen die Sachverhalte klar darstellen und an Beispielen aus ihrer universitären Lehrtätigkeit veranschaulichen. Fragen und Aufgabenstellungen regen zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Inhalt an. Das aktuelle und umfangreiche Literaturverzeichnis lädt zum weiteren Recherchieren ein.

Ich möchte das Buch allen empfehlen, die sich in Bildungsinstitutionen mit der Förderung von Mehrsprachigkeit befassen. Es ist im Bestand sehr vieler Universitätsbibliotheken zu finden

Literatur

Kroffke, S.; Rothweiler, M. (2004): Sprachmodi im kindlichen Zweitspracherwerb. Zweitspracherwerb und seine Bedeutung für die sprachpädagogische Diagnostik. In: Sprachheilarbeit 2004, 1, 18–24.

List, G. (Hrsg.); List, G. (Hrsg.) (2001): Quersprachigkeit. Zum transkulturellen Registergebrauch in Laut- und Gebärdensprachen. Tübingen: Stauffenburg-Verl. (2001), 49–64.

Rezension Kristin Linklater: Meisterwerk Stimme. Entfaltung und Pflege eines natürlichen Instruments

Kristin Linklater (2019): Meisterwerk Stimme. Entfaltung und Pflege eines natürlichen Instruments, München: Reinhardt, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, aus dem Englischen von Michael Petermann und Irmela Beyer, ISBN: 978-3-497-02902-0 (Print); ISBN: 978-3-497-61235-2 (PDF-E-Book); ISBN: 978-3-497-61236-9 (EPUB), Broschiert 39,90 €

THEMA:

Linklaters Buch stellt eine Anleitung zur Befreiung der Stimme dar. Es richtet sich an Menschen in Sprechberufen, legt dabei aber den Fokus auf die Entfaltung und Pflege der Stimme für Menschen die Theater spielen. Das Buch ist zum Selbststudium konzipiert, jedoch auch für die Arbeit zu zweit oder in einer Gruppe oder Klasse geeignet.

AUTORIN UND ENTSTEHUNGSHINTERGRUND

Linklater hat bereits 1976 in New York ein Buch zum Thema herausgebracht: „Freeing the Natural Voice“. Damit begründete sie ein weltweit bewährtes Übungsprogramm, das nun in der 5. Auflage umfangreich überarbeitet und in wesentlichen Teilen ergänzt wurde. Die Übersetzung aus dem Englischen erfolgte durch das Team Michael Petermann und Irmela Beyer. Sie bezieht sich auf die überarbeitete und umfangreich erweiterte neue Fassung von Linklaters Buches aus 2006: Freeing the Natural Voice – Imagery and Art in the Practice of Voice and Language, Hollywood, California.

AUFBAU

Das Buch umfasst 385 Seiten und hat einen Anhang von 10 Seiten. Nach einem Vorwort des Übersetzers ist es in drei Teile gegliedert. Der erste und zweite Teil sind übersicht­lich in Arbeitstage untergliedert.

Der Seitenspiegel ist harmonisch gestaltet und durch Schriftgröße und Druck gut geglie­dert. Der Text, Kommentare, Zitate und Arbeitsaufträge sind fett oder kursiv mit unterschied­lichen Schriftgrößen, Schrifttypen und Grauabstufungen sehr gut unter-scheid­bar. In einem Anhang zitiert Linklater auf vier Seiten Ausschnitte aus „Anatomy and Physiology of the Voice and Choral Pedagogy“ von Robert Sataloff, M.D.

Außerdem finden sich dort Hinweise auf die Ausbildung zum autorisierten Lehrer oder zur autorisierten Linklater-Lehrerin.

ANSPRACHE DES LESERS

Bei den Übungen spricht Linklater den Leser, die Leserin direkt an. Das „Du“ biedert sich je­doch nicht an und könnte ebenso durch ein „Sie“ ersetzt werden. In wenigen Passagen spricht sie über ihr eigenes Erleben, um die Bedeutung einer Übung zu betonen. Gelegent­lich verwendet sie ein „wir“, das auf allgemeine Erfahrungen Bezug nimmt oder ein „uns“, wenn es um eine gemeinsame Aufgabe geht. Ihre Ausdrucksweise ist durch ihre mündliche Praxis geprägt. Die Autorin setzt sich für eine gendergerechte Sprache ein. Generische Maskulina wurden teilweise durch generische Feminina ersetzt.

INHALT

In der Vorbereitung auf die Stimmarbeit regt die Autorin eine zeichnerische Reflexion in drei Bildern an: wie ist meine Stimme jetzt, wie wäre sie, wie ich sie mir wünschte und was hält meine Stimme davon ab, so zu werden. Sie regt an, mit einem eigenen Gedicht: „An meine Stimme“ herauszufinden, was zu tun sei, um das stimmliche Poten­tial voll zu entfalten. Linklater betont die persönliche Verantwortung für eine einge­hende Untersuchung der eigenen Stimme. Dazu bietet sie an einer Reihe von Arbeitsta­gen Übungen an, die in einer geringen Zeitspanne von ein bis zwei Stunden erlernbar sind, die aber einen größeren Zeitrahmen mit vielen Übungen brauchen, um verinner­licht zu werden. Die Übungsanweisungen sind in Schritte unterteilt. Zeichnungen verdeutli­chen wesentliche Handlungsschritte. Um sich diese einzuprägen, zeigt die Auto­rin unterschiedliche Wege auf. Dabei erachtet sie Geduld als hilfreich.

Im folgenden möchte ich alle Übungseinheiten des ersten Abschnittes besprechen, weil sie das Fundament der Methode darstellen. Den zweiten und dritten Teil werde ich in Ausschnitten vorstellen.

Nach der Einführung geht es im ersten Teil, der etwas über 150 Seiten umfasst, um das Körperbewusstsein, um Entspannung und Entfaltung und die Berührung des Klangs. Hierfür hat Linklater vier Arbeitstage im Rahmen von vier Arbeitswochen eingeplant, in denen die Übungen an mehreren Tagen praktiziert werden sollen. Sie schlägt vor Beobach­tungen aufzuschreiben.

Am ersten Arbeitstag wird der Focus auf die Wirbelsäule gelegt; ihre Aufrichtung als Stütze des natürlichen Atems betrachtet. Die Anleitungen sind sehr detailliert und wer­den mit mentalen Vorstellungen verknüpft, wie beispielsweise dem Baum. Zeichnungen veranschaulichen die Übungsfolge und lenken die Aufmerksamkeit auf Anspannung und Entspannung. Schon am ersten Arbeitstag wird auf das genüssliche Bedürfnis des Gäh­nens hingewiesen, dem Linklater eine große Bedeutung für die gesamte Arbeit an der Stimme beimisst.

Am zweiten Arbeitstag geht es um die Atemwahrnehmung, die Befreiung des Atems und um die Quelle des Klangs, die Luft. In den einzelnen Schritten wird der unwillkürli­che Atemrhythmus beobachtet. Die Übenden werden aufgefordert, den Atem nicht willkür­lich zu lenken, nicht bewusst ein- oder auszuatmen, sondern den Atem kommen und gehen zu lassen. Hierbei soll dem Bedürfnis zu gähnen und zu seufzen nachgegeben werden. Dies ist für die Theaterarbeit wichtig, denn: „Um sich in eine andere Person hinein­zuversetzen und ihr Leben zu leben, muss man bereit und in der Lage sein, auch tief verwurzelte Atemmuster loszulassen und neuem Verhalten aus der Psyche der zu spielenden Person zeitweise die Erlaubnis geben, die Atemmuskulatur zu steuern.“ (54)

Am dritten Arbeitstag erfahren die Übenden, sich bei der Beurteilung des Klangs nicht allein auf das Gehör zu verlassen, sondern erste Vibrationen im Körper wahrzunehmen und den Ursprung des Klangs in einem „Vibrationssee“ in der Körpermitte zu orten. Die Berührung des Klangs geht mit einem Seufzer der Erleichterung einher und dieser hat wohl noch eine größere Bedeutung für die Stimme als das Gähnen. „Alle, die sich wün­schen, ihre Stimme möge mitteilen, was sie fühlen, werden den Punkt, an dem sich Atem, Klang, Solarplexus und Zwerchfell treffen, durch wiederholtes aktives Imaginieren im­mer deutlicher zu fassen bekommen.“ (82) Das Bild des Marionettenspielers regt zu Bewe­gungen an, mit denen sich mit Hilfe der Schwerkraft Spannungen lösen lassen.

Der vierte Arbeitstag regt an Vibrationen frei zu lassen: Lippen, Kopf und Körper – Flüsse aus Klang. Um die Stimme zu heilen, zu kräftigen und zu nähren empfiehlt Linklater ein effektives Summen. Damit kreative Impulse nicht untergehen, sollen die Muskeln im Nacken durch das Kreisen von Hals und Kopf entspannt werden. Rachen, Zunge, Kehlkopf und Kiefer sollen losgelassen werden, um den Kanal für den Klang freizule­gen. „Mit deiner Fähigkeit,Verspannungen immer genauer wahrzunehmen und aufzulösen, wächst dein Vermögen, Vibrationen zu entlassen, die imstande sind, einen ursprünglichen Klang zu verstärken.“ (119)

Am fünften Arbeitstag wird der Kanal befreit: Kieferbewusstsein, Kieferentspannung, und Verspannungen loszuwerden sind das Ziel. Linklater reklamiert: „Wir wurden mehr oder weniger sanft dazu erzogen, den Kiefer eher wie ein Stahltor zu benutzen, das vor dem Ansturm der Gefühle lautstark ins Schloss fällt, statt in ihm ein weit aufgerissenes Portal zu sehen, durch das eingesperrte Gefühle mit großen Sprüngen in die Freiheit gelangen können.“ (143) Damit die Kiefermuskeln loslassen können, soll der Nacken den Oberkiefer unterstützen, damit der Raum zwischen Ober- und Unterkiefer frei wird. Ein Tipp empfiehlt, den Atem am Munddach entlang zu seufzen, damit er sich nicht in der Kieferbewegung verfängt.

Am sechsten Arbeitstag soll ein Bewusstsein für die Zunge entwickelt werden. In dem sie gelockert und gedehnt wird, soll der Kanal befreit werden. Zur Entfaltung der Stimme geht die Autorin sehr systematisch vor und beschreibt sie in aufeinander aufbauen­den Sequenzen und Schritten. Dabei geht es ihr um eine Präzisierung der Zusam­menhänge, wie etwa um die inneren abdominalen Atemmuskeln einschließlich der Verbindung mit dem Zwerchfell, der Crura diaphragmatica. „Wenn wir unser Nachrich­tennetzwerk zwischen Geist, Körper, Psyche und Atem dazu erziehen können, sowohl den Sacral- als auch den Solarplexus einzubeziehen, dann erreichen wir mit ho­her Wahrscheinlichkeit eine größere Offenheit für instinktives, spontanes und reflexhaf­tes Handeln auf kreativem und emotionalem Gebiet.“ (171) Hierzu bringt die Autorin auch ihr kulturumfassende Wissen ein: „In der tantrischen Tradition müssen die sexuel­len und die spiruellen Kräfte zwar im Handeln sorgfältig auseinandergehalten werden – dennoch wohnen Sexualität und Geist gemeinsam im Kreuzbein.“ (171)

Am siebten Arbeitstag soll Raum geschaffen werden, indem das Gaumensegel geschmei­dig gemacht und geöffnet wird. Mit Seufzern der Erleichterung soll der Atem in un­terschiedlichen Tonhöhen jeweils neu angefacht werden. Indem dies ohne zu ackern, quasi mühelos geschieht, wird die Bildung von psychophysischen Reaktionsmustern gefördert, die zu einer fruchtbaren Wechselbeziehung zwischen einer freien Stimme und freien Gefühlen führen. Immer wieder ermuntert Linklater die Übenden sich Zeit zu neh­men und die Verbindung zu dem zentralen Ausgangspunkt, dem Seufzer der Erleichte­rung, nicht zu verlieren. Damit sie Erfahrungen sammeln können, werden sie ermuntert, die Übungen in ab- und aufsteigenden Tonhöhen zu wiederholen, so oft, bis sie sich diese angeeignet haben. Zur Erreichung dieses Zieles gibt die Autorin die vielfältigsten Stimuli, regt aber auch die Übenden dazu an auszuprobieren, wie die Muskelgruppen auf ima­ginative Stimuli reagieren, etwa zu beobachten, was mit dem Gaumen geschieht, wenn man auf der anderen Straßenseite eine Freundin entdeckt. Wenn der weiche Gau­men angeregt wird, auf sensorische Stimuli zu reagieren, erhöht das seine Flexibilität. „Der Wunsch also generiert simultan in der Quelle und im Kanal eine Impulsantwort, die den Stimmapparat bereit zur Äußerung macht.“(182)

Dabei geht es um eine Gruppe schwer zugänglicher Muskeln, die normalerweise nicht der willkürlichen Kontrolle unterstehen und die daher eine erhöhte Aufmerksamkeit erfordern.

Der achte Arbeitstag witmet sich der Verbindung von Wirbelsäule und Kanal.

Linklater greift damit erneut die Wirbelsäule auf, weil diese als wichtige Verkehrsader zwischen Körper und Geist vermittelt. Dazu imaginiert sie das Bild einer Spielzeugeisen­bahn. „Deine Wirbelsäule wird zum Gleis einer Spielzeugeisenbahn, das Summen ist der Zug. Du startest die Lok im Steißbein, (…) und am Ende des Gleises hebt sich dein Oberkie­fer, und der Spielzeugzug fliegt hinaus ins weite lichte Blau.“ (191)

Dazu ist es wichtig, dass sich das Zwerchfell frei und ungehindert bewegen kann. Anstatt je­doch die Bewegung koordinieren zu wollen, sollte man sich einfach nur das spieleri­sche Bild vorstellen.

Am neunten Arbeitstag soll ein Bewusstsein für die Kehle geschaffen werden.

Wenn das Gaumensegel träge und die Zunge nicht locker ist, kann an der Stelle, an der der Klangkanal in einem scharfen Kurve von der Kehle in den Mundraum übergeht, schnell ein Stau entstehen. Durch das Zurückbeugen des Kopfes kann der Kanal begra­digt werden, sodass der Atem ohne Hindernis durch einen freien Durchgang vom Beckenbo­den bis zum Himmel aufsteigen kann. Es werden Übungen vorgeschlagen, in denen das Augenmerk auf Vibrationen in der Tiefe gelegt wird, wohingegen der Kehl­kopf ignoriert werden sollte. „Je weniger du dabei dein Interesse auf den Kehlkopf rich­test, umso besser.“ (194) Wenn die Kehle entspannt ist und nicht versucht, den Klang zu unterstützen, werden die Atemzentren zu Energiezentren.

Im zweiten Teil des Buches, der ca. 130 Seiten umfasst, geht es in den nächsten sechs bis acht Wochen darum, die Stimme zu entwickeln und zu stärken. Wieder werden zehn Arbeitstage angeboten, in denen nun die Resonanz der Stimme bewusst gemacht wird.

Dabei werden die Übenden die Resonanzleiter hinaufgeführt. Diese fußt auf den unteren gro­ßen und weiten Resonanzräumen und beginnt von der Brust über den Mund, die Zähne, die Nebenhöhle und Nase bis zum Schädel. Linklater führt den Leser in diese sich immer weiter verjüngenden Resonanzräume ein und ermuntert sie auf der Resonanzlei­ter auf und ab zu springen. Dabei hat jeder Teil der Stimme seine eigene Sprosse, die Linklater detailliert beschreibt. Sie geht auf die Kraft der Atmung ein, die sich aus dem Zusammenwirken von Zwerchfell, Zwischenrippenmuskeln und Beckenboden ergibt. Auch hier werden die Übenden angeleitet zu imaginieren: „Lass zu, dass die Vibrationen von allen Farben des Regenbogens überflutet werden. Vielleicht kann dich die Vorstel­lung von Iris, der Götterbotin, dabei inspirieren.“ (211) Für Fortgeschrittene zeigt sie auf, wie sie mit Sensibilität und Kraft Impulse stärken können.

Den vierzehnten Arbeitstag möchte ich etwas detaillierter besprechen, weil das Thema der Nebenhöhlen als Resonatoren sowohl in meiner Ausbildung als Sprecherzieherin als auch als Sprachheilpädagogin kaum Beachtung fand.

Linklater erachtet die Nebenhöhlen in der Mitte des Gesichtes als subtilste, vielschich­tigste und spannendste Region der Stimme. Das liege an der Vielgestalt der Hohlräume und Kammern und der Durchgänge mit Wänden aus feinstem Knorpel, was eine enorme Bandbreite an Resonanzeigenschaften und damit unterschiedlichste Klangqualitäten erlaube, mit denen es möglich sei, auch subtilste gedankliche Nuancen auszudrücken. Dass dieses Potential oftmals nicht genutzt wird, wertet Linklater als Verteidigungsmecha­nismus. Gesetzt den Fall, dass ein Fahrer unverantwortlich zu schnell fährt, wäre der Primärimpuls des Beifahrers Angst. „Käme die von der Angst ange­fachte Energie direkt zum Ausdruck, brächte sie Atem und Stimmlippen dazu, rela­tiv hochfrequente Vibrationen zu erzeugen, die im mittleren und oberen Teil des Gesich­tes Verstärkung fänden. Myriaden winziger Muskeln in den Geweben, die die Kehle, den weichen Gaumen, die Nasennebenhöhlen und die Stirnhöhlen auskleiden, nähmen diese Energie des ursprünglichen Impulses auf und entwickelten einen Tonus, der in der Lage wäre, immer mehr Vibrationen dieser Frequenz zu liefern, und damit den Primärimpuls der Angst genau zu übermitteln.“ (256) Stattdessen wird die Angst häufig wie durch eine Konditionierung sublimiert. Anstatt dem Primärimpuls der Angst Ausdruck zu verlei­hen, werden gewohnheitsmäßig die ruhigen Klangräume der Brust geöffnet und es kommt zu einem freundlichen Vorschlag in einem beruhigenden Tonfall. Eine weitere Möglichkeit der Sublimierung wäre der Versuch, den Angstimpuls weiter in die Höhe zu schrauben und in ein sehr hohes und albernes Lachen zu verfallen. Damit die Stimme des Schauspieles reine, unverfälschte Gefühle ausdrücken kann, reicht es nicht aus, nur eine wohlklingende Stimme zu haben. Wenn die Stimme nur wie ein Musikinstrument, allein als Klang eingesetzt wird, ist sie nicht in der Lage Vielschichtiges wiederzugeben. „Wenn du dich auf die Wahrheit der zu vermittelnden Gedanken und Gefühle einlässt, und diese auch wirklich mitteilen willst, und wenn außerdem deine Atem- und Stimmmusku­latur frei von Blockierungen oder Verspannungen ist, wird deine Stimme den Gehalt jener Gedanken und Gefühle tief aus deinem Innern nach vorn in deinen Mund und weiter bis ins Publikum tragen.“ (269) Zur Vorbereitung für die Arbeit an der Mitte der Stimme lenkt Linklater die Aufmerksamkeit auf die hinter der Maske liegen­den inneren Dimensionen. Die Muskeln des Gesichtes sollen aktiviert werden, um die Kommunikation unterstützen zu können. Nach sehr komplexen Anleitungen sollen alle Gesichtsmuskeln bewegt werden, wobei zum Teil entgegengesetzte Reaktionen erwartet werden: „Öffne dein Auge weit, während du das andere energisch schließt, und umge­kehrt. Wiederhole das mehrmals.“ (258) Besonderes Augenmerk lenkt Linklater dann auf die Nasennebenhöhlen, die sie als Sinushöhlen bezeichnet. Sie leitet dazu an, diesen Bereich zwischen Nase und Wangenknochen zu ertasten und ohne Beteiligung anderer Muskeln zu bewegen. Besonders die Zunge soll dabei entspannt auf der Unterlippe liegenblei­ben, damit sich die Bewegungen des Sinusbereichs von der Zunge abkoppeln. Dies wird mit einem Blick in den Spiegel kontrolliert. Damit die Quellen von Impuls und Atmung nicht im Körper nach oben wandern, werden die Sinusübungen mit der Arbeit am Boden kombiniert. Mit einer fokussierten Übung der Lippen, die sich zwischen Kuss­mund und Grinsen abwechseln, ohne dabei den Kiefer zu bewegen, sollen Vibrationen erspürt werden und als kraftvolles „uey“ herausgeschleudert werden. Dabei wird die Resonanz der Nebenhöhlen und Wangenknochen aufgenommen und damit die Entfal­tung und Kräftigung des mittleren und oberen Bereichs der Stimme unterstüzt. Mit vielfälti­gen Wiederholungen in ansteigenden Tonhöhen werden die Vibrationen erfahr­bar. Dabei befindet sich von der Quelle des Atems bis zur Oberfläche des Gesichts nichts als freier Raum. Um den Mittelteil des Stimmumfangs zu stärken, ist es wichtig, die Reso­nanz ganz vorn im Gesicht zu stimulieren. Dazu werden Vorschläge gemacht, wie mit englischen Sätzchen diese Resonanz in immer höherem Tempo erreicht werden kann und die Übenden werden ermutigt mit eigenen Sätzchen zu experimentieren. Eine kleine Par­titur gibt die Tonfolge vor. „Wenn du dich auf die Wahrheit der zu vermittelnden Gedan­ken und Gefühle einlässt, und diese auch wirklich mitteilen willst, und wenn außer­dem deine Atem- und Stimmmuskulatur frei von Blockierungen oder Verspannun­gen ist, wird deine Stimme den Gehalt jener Gedanken und Gefühle tief aus deinem In­nern nach vorn in deinen Mund und weiter bis ins Publikum tragen.“ (269)

An den folgenden Arbeitstagen geht es um die Nase als Resonator und damit um die Tragfä­higkeit der Stimme und um die Erweiterung des Tonumfangs zu drei bis vier Okta­ven sowie um die Nutzung der hohen Intensität des Schädels als Resonanzraum. Dann wird ein Zirkeltraining für den Stimmumfang mit schwungvollen Übungen, die für Kraft, Beweglichkeit und Freiheit sorgen sollen, vorgestellt. Schließlich geht es um die Artikulation von Konsonanten und Vokalen und wie aus der Stimme Wörter werden.

Die Autorin gibt am Ende des zweiten Teiles ein Workout heraus, in dem auf drei Seiten ihr gesamtes Übungsprogrann in Stichworten zusammengefasst ist. Diese Zusammenfas­sung schafft einen gewaltigen Eindruck von der Fülle des Programms.

Die Brücke zu Text und Schauspiel wird im dritten Teil des Buches geschlagen. Mit knapp über 50 Seiten ist dieser Teil der kürzeste. Das liegt wohl daran, dass hier Versuchsan­ordnungen angesprochen werden, die nicht als Regelwerk gelten sollen; viel­mehr werden weitere Experimente und neue Ideen der Übenden angeregt. Die Arbeit beginnt ganz elementar mit dem Seufzen der langen Vokale: a, i und u, bevor die kurzen ungespannten Vokale ausgesprochen werden. Dann werden die Unterschiede zwischen stimmhaften und stimmlosen Lauten erfahrbar gemacht. In einem spielerischen Ausprobie­ren werden die Laute gemischt und die Unterschiede festgestellt. Sodann wer­den Lautfolgen vom Knie und Beckenboden aufsteigend bis zum Schädeldach gebil­det und wieder abwärts durch die Resonanzräume des Körpers geleitet. Dabei soll jeder Klang zunächst eine eigene Frequenz und Tonhöhe erhalten. Schließlich werden die Töne zu Gruppen zusammengefasst. In einem weiteren Schritt werden Wörter in ihre Laute zergliedert, wobei ganz präzise beobachtet wird, welche Artikulatoren und welche Vibra­toren beteiligt sind und in welcher Intensivität sich die Atemluft welche Wege bahnt. Die weiteren Übungen werden immer komplexer und reichen von Wörtern, die Konkretes bedeuten bis zu abstrakten Vorstellungen, zu Verben und schließlich zu klei­nen Angelpunktwörtern. Dass diese kleinen Wörter, die üblicherweise untergeordnet sind, mit ihren Qualitäten gesondert wahrgenommen werden, soll lebhafte, farbige Nuan­cen zur Prosodie beitragen können.

Wie Texte zu Kunst werden oder wie ein Reclam-Heft auf die Bühne kommt, behandelt Linklater in Vorabüberlegungen. Es geht um die Transformation von toten Buchstaben, die in Fleisch und Blut verkörpert auferstehen sollen. „Die geistige Anstrengung , die Schauspieler*innen bei der Aufnahme des gedruckten Wortes und seiner Umwandlung in das gesprochene zu leisten haben, besteht darin, den zeternden rationalen Verstand zur Ruhe zu bringen und dem einzelnen Wort Zeit zu geben, damit sich sein Druckbild auflösen und in nonverbale Bilder, Gefühle, Stimmungen, Sehnsüchte und Erinnerungen verwandeln kann.“ (356) Anstatt Texte auswendig zu lernen, sollten die Wörter einer Figur in die innere Landschaft des Sprechers aufgenommen werden. Diese Aneignung führe dazu, dass die den Worten zu Grunde liegenden Gedanken zu Gefühlen würden. Dadurch sollte jede Faser des Körpers neu ausgerichtet werden. Der Text sollte mit je­der Wiederholung eine neue Bedeutung finden. Dabei könnten wechselnde Körperhaltun­gen unterschiedliche Reaktionen auf den Text hervorbringen. Linklater gobt zu bedenken, dass die Texte aus unterschiedlichen Zeitaltern, Regionen und gesell­schaftlichen Verhältnissen stammen und daher unterschiedliche Herangehensweisen verlangen. Sie verweist auf eine eigene Veröffentlichung, die sich mit dem Werk Shakespeares beschäftigt. Sie gibt einen Querriss der Literatur- und der Theaterge­schichte und eine Orientierungshilfe innerhalb der Kategorien für dramatischen Texte: klassisch – modern – zeitgenössisch. Die Autorin betont, dass es für das Lesen der Texte wichtig sei, die darunterliegenden Bedürfnisse in Bildern zu erfassen. Sie warnt davor einen Text abzulesen, denn es könne sich dann, wie beim Lesen mit Hilfe eines Telepromp­ters, ein bestimmter Tonfall einschleichen. Linklater beklagt, dass in der westli­chen Welt die Alltagssprache heute mit vier bis fünf Halbtönen verkümmert, wo doch drei bis vier Oktaven möglich wären. Sie führt das auf die Tatsache zurück, dass heutzutage die vokale Kommunikation nicht mehr so viel Raum hat ist wie früher. Als es noch üblich war in der Familie sich bei Mahlzeiten zu unterhalten, gemeinsam zu singen oder etwas vorzulesen, als noch Gedichte vorzutragen und Respekt vor der Literatur zu haben ein Teil des Lehrplans waren, da seien kräftige und farbenreiche Stimmen nicht wegzudenken gewesen. Heutige Autoren bilden eine Gesellschaft ab, die ihre „sprachli­che Erkennungsmarke“ verloren hat. „Auf dem Theater übernehmen heute Musik, Tech­nik, Geräuschkulissen und Spezialeffekte häufig das, was früher Worte geleistet haben.“ (366) Die klassischen Texten bieten Material, das Schauspieler*innen auf der Suche nach Klängen vergangener Stimmen nutzen können. Zum Einstieg in den Text stellt Linklater eine Checkliste vor, um die Antennen für den Text zu sensibilisieren.

Als erstes wird der Text nach Wendepunkten untersucht: Gibt es gedankliche Brüche. Emotionale Umschwünge oder Richtungswechsel in der Handlung? Dann werden mit klassischen Interrogativpronomen Informationen über den Sprecher eruiert: Wer, wo, wann, was, warum und wie. Desweiteren gibt es fünf „Ps“-Fragen. Zuerst die persönli­chen Fakten, zu denen alles zählt, was zum Leben der Sprechenden gehört.

Dann die psychologischen Fakten, die etwas über den Gemütszustand des Sprechers aussagen und bescheiben, wie sich seine Persönlichkeit geformt hat, weiter geht es um professionelle, politische und philosophische Fakten. Zu letzteren wird gefragt, ob die Person religiös ist, an Gott glaubt, eine spirituelle Praxis lebt oder nach dem Sinn ihrer Existenz sucht. Danach werden Fragen nach der Dynamik, nach Tempo, Tonhöhe und Lautstärke gestellt. Schließlich geht es um den Rhythmus: Neben den dynamischen Kompo­nenten werden hier noch die Betonung mit starken und schwachen Akzenten genannt und schließlich werden Regelmäßigkeit, Unregelmäßigkeit dazu gezählt. Linklater zählt auch Synkopen zum Sprechrhythmus. Das kann ich mir nur so erklären, dass durch die Auslassung unbetonter Vokale Spannung erzeugt wird.

In dem abschließenden Kapitel Der Haiku bietet Linklater bewusst eine literarische Stilrichtung an, an der quasi en miniatur der Umgang mit Texten erprobt werden kann.

Diese kreative Aufgabenstellung gab es noch nicht in der ersten Auflage ihres Buches.

Die fünf Beispieltexte sind literarische Werke berühmter japanischer Haiku-Dichter die aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammen. Im folgenden beziehe ich mich auf die Erarbei­tung des Textes von Onitsura (1660-1738).

„Im grünen Weizen

Schwingt sich die Lerche empor

Und senkt sich wieder“ (373)

Zunächst soll der Haiku in großen Abständen zweimal auf je ein Blatt geschrieben wer­den, wobei dann anschließend das eine Blatt in Wörter und das andere Blatt in die Zei­len des Haiku zerteilt wird. Zuerst werden die einzelnen Wörter in beliebiger Reihen­folge wahrgenommen und in ein Gefühl, eine Handlung oder in eine abstrakte Gestalt verwandelt. Dann soll das Papier weggelegt werden und die Vorstellung des Wortes leben­dig werden. Sie soll den Atem bewohnen und Klangvibrationen erzeugen. Beim Aussprechen des Wortes soll das körperliche Erleben spürbar sein, um es deutlich zu sehen, zu schmecken, zu berühren und in seiner Bedeutung zu erkennen.

Anschließend werden die Wortgruppen jeweils einzeln aufgenommen, indem sie neue Bilder hervorrufen. Dann wird der Haiku in der korrekten Zeilenfolge genau betrachet und die Vorstellungen, die der Text erzeugt, präzise wahrgenommen. In einem weiteren Schritt wird versucht, auf die innere Verfasstheit des Dichters zu schließen. Dazu dienen die sechs W-Fragen und die fünf Ps. Die Antworten können sowohl für den Dichter zutref­fen als auch für den Interpreten gehaltvoll sein.

Zum Schluss kommt die Dynamik ins Spiel: Die erste Zeile braucht eine gewisse Schwin­gungsbreite und soll daher mit eigenem Gewicht eher langsam hervorkommen, während bei der zweiten Zeile die Worte schneller und vielleicht etwas höher kommen.

Schließlich fällt in der letzten Zeile die Stimme mit der Stimmung. „Der Rhythmus des Haiku tritt zutage aus der inneren Dynamik von Bild, Gefühl, Empfindung und Wort.“ (378) Beim Sprechen des Haikus sollen die beiden emotionalen Wechsel erlebt werden, die in der bildlichen Vorstellung des Aufsteigens und des Sinkens ausgelöst werden.

DISKUSSION

Das Buch Meisterwerk Stimme ist ein wundervolles Buch, das sehr gut zur Entfaltung und Pflege des natürlichen Instruments Stimme geeignet ist. Der einpräg­same markante Titel von Michael Petermann hält, was er verspricht. Sein Untertitel gibt eindeutig das Programm vor. Die Anleitungen sind sehr präzise und detailliert.

Die Zeichnungen im Innenteil von André Slob, aus Utrecht in den Niederlanden veranschauli­chen mit den Silhouetten menschlicher Gestalten harmonische Bewe-gungsab­läufe oder überzeichnen das Gegenteil. Auch wenn ich auf die achzig zu­gehe, konnte ich von den Anregungen zur Aufrichtung der Wibelsäule profitieren.

Sehr gut gefallen mir die umfangreichen und präzisen Hintergrundinformationen zu den ana­tomischen Zusammenhängen des Stimmaparates. Besonders ertragreich empfand ich die Arbeit mit den Haikus. Dass die Autorin ihre große kulturelle Erfahrung in den Text einfließen ließ, regte mich zum weiteren Recherchieren an.

FAZIT

Das Übungsprogramm nach Linklater erzeugt tiefgehende Vorstellungsbilder, die in der Psyche verankert sind und die dabei helfen, die Stimme als individuelles und natürliches In­strument zu entfalten, zu pflegen und zu erhalten. Menschen in Sprechberufen können be­sonders davon profitieren. Für die Arbeit auf der Bühne erscheint mir Linklaters Buch als fundamental. Ihre Methode, die in Deutschland in vielen Ausbildungsstätten von zertifi­zierten Lehrern gepflegt wird hat mit der vollständig überarbeiteten Fassung nun ein unverzichtbares Lehrwerk gefunden.

Dr. Rita Zellerhoff, Düsseldorf

Rezension zu Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln

Besprechung des Erstlingswerk von Peer Martin ins besondere unter dem Aspekt der sprachlichen Charakterisierung der beiden Hauptfiguren Nuri und Calvin.

peer

Abstract:

Die Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises kürte ein beeindruckendes Buch, das aktuelle Probleme im Zusammenleben eines geflüchteten jungen Mädchens aus Syrien und eines Jugendlichen aus dem rechten Milieu einer Plattenhaussiedlung in Deutschland aufzeigt.

Hier soll die besondere sprachliche Qualität in der Charakterisierung der Hauptpersonen beschrie­ben werden, die in fast allen Besprechungen und Würdigungen der großen Anzahl von Preisverleihungen als beachtenswert herausgestellt wurde.

 

 

Fragestellung:

In der Begründung der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises wird ein eklatanter Unterschied zwischen den Erzählmodi er beiden Protagonisten bemerkt:

„Nuri erzählt märchenhaft und poetisch, Calvin drastisch und ungeschliffen.“

(Abruf: 29.11.2016)

Wie charakterisiert der Autor die Hauptfiguren durch ihre je unterschiedliche Erzählweise ?

Erzähltraditionen

Der Autor Peer Martin erwähnt, dass sein Buch im Sommer 2015 entstanden sei, in dem er sich mit einem syrischen Freund bei weiten Spaziergängen in Mecklenburg –Vorpommern an der Küste der Ostsee ausgetauscht habe. Es ist zu vermuten, dass der Autor hierbei auch viel über die oralen Traditionen Syriens erfahren hat, denn er zeichnet die epische Figur des syri­schen Mädchens Nura durch diese phantastische Weise des Erzählens aus.

In der arabischen Welt hat sich eine bedeutende Tradition des Geschichtenerzählens etabliert. Der syrische Schriftsteller Rafik Schami, der bereits 1971 aus Syrien flüchtete, weil er wegen seiner regimekritischen Wandzeitungen verfolgt wurde, beschreibt in seinen Büchern die Kunst des Märchenerzählens und ihre Hochkultur, wie sie traditionell in den Caféhäusern von Damaskus gepflegt wurde. Das phantastische Erzählen von Märchen, Fabeln und Parabeln lebte in Rafik Schamis Heimat von Utopien und Fiktionen. Er schildert in seinen Erzählungen über das Erzählen die Wechselwirkungen von Erzähler und Zuhörern, die sich in der Kunst des Fabulierens gegenseitig steigerten. Rafik Schami, der in seiner Wahlheimat Deutschland auf Deutsch schreibt, möchte die Erzähltraditionen der europäischen und der arabischen Welt bei gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung miteinander verbinden. Diesen Wunsch trägt er in seinen lebendigen Lesungen vor, in denen er aber nicht aus seinen neuen Büchern vor­liest, sondern über deren Inhalte erzählt, so bei der Vorstellung seines Buches: Die Frau die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (2006), die ich miterleben durfte und auf die ich mich hier beziehe.

Peer Martin berichtet in einem Interview, dass er Informationen über Syrien aus Rafik Schamis Büchern gewonnen habe. Außerdem gibt er an, er habe ein Jahr intensiv die Hinter­gründe seines Romans recherchiert aber schon viele Jahre vorher Informationen von Studienkol­le­gen erhalten, die aus Syrien stammten. Die Informationen über die rechte Ju­gendszene habe er aus seiner sozialpädagogischen Arbeit mit rechtslastigen Jugendlichen gewon­nen, wie er in einem Interview mit Stephan Gora berichtet (vgl. Buchners Lektürebeglei­ter, 2016).

Mit einer sehr bildhaften Sprache zeichnet Peer Martin nicht nur die epische Figur von Nura, die weibliche Protagonistin, sondern auch ihre Sphären, von denen sich Calvin, ihr Gegenspie­ler anfänglich deutlich sowohl inhaltlich als auch in seiner Diktion abgrenzt. Beson­ders auffällig sind die unterschiedlichen Tempi mit denen ihre extrem unterschiedlichen Lebenswelten beschrieben werden.

Im Haus einer alten Dame, der ehemaligen Lehrerin Frau Silbermann

Ein Schnittpunkt, an dem die beiden Sprachwelten aufeinandertreffen, ist das Haus einer

ehemaligen Lehrerin, Frau Silbermann, die wegen der Erbschaft eines alten Hauses in einem verwunschenen Garten aus Israel nach Deutschland zurückgekommen ist. Ihre Fluchterfah­rung aus dem Nazideutschland deutet der Autor an. Die Lehrerin, die sich um die sprachliche Bildung von Calvins jüngeren Brüdern kümmert, verfügt über arabische Sprachkenntnisse, sodass sie in Israel als Übersetzerin arbeiten konnte. Sie vermittelt so den ersten Kontakt zwi­schen Nura, genannt Nuri und Calvin. Der folgende Ausschnitt spielt im Haus der Lehrerin.

Nuri beschreibt die Andenkensammlung im Treppenraum und die Möblierung des Raumes in dem sie auf die Lehrerin wartet und auch die Stimmung, die das Licht bei ihr hervorruft, sehr ausführlich und liebevoll.

„Das Zimmer war schön, voller Teppiche, voller Farben, voller Bücher, voller Licht. Das Licht wurde von den Ranken draußen gefiltert, und es war grün.

Grün. Grün war die Farbe der Felder ….

Aber sie hatten die Felder angezündet.“ (8)

Hier steigert der Autor in einer Epanalepse die Bedeutung des Wortes GRÜN, mit dem Nura eine schmerzhafte Erinnerung an ihre Heimat verknüpft.

Calvin betrachtet Frau Silbermanns Haus sehr kritisch. Aus seiner Gedankenrede ist sein Sozial­neid zu spüren:

„Grün. Grün ist die Farbe des Lebens. (…) und er sah sie an und wusste, dass die Stunde des Adlers kommen würde – des deutschen Adlers, der das Land zurückverlangte. Er, Calvin Lüttke, würde dabei sein, wenn um das Land gekämpft wurde.“ (9f)

„Grün. Grün war die Farbe der Erneuerung. Doch das Grün der Ranken an dem alten Haus war ein anderes, ein irgendwie undeutsches, unordentliches Grün. (…) Er sah daran empor und dachte an die tristen grauen Blöcke des Großstadtviertels. In den winzigen Wohnungen wucherte nur der Schimmel an den Wänden.“ (10)

Auch hier wird durch die Wiederholung die Bedeutung des Wortes GRÜN gesteigert. Grün ist eine Farbe, die in ihrer positiven Symbolkraft für den Neuanfang steht, die aber auch eine negative Konnotation aufweist, wie die des Neides und des Giftes. Aus der Gedankenrede Calvins lässt sich folgern, dass er sich benachteiligt fühlt und auf andere Menschen, denen es besser geht, neidisch ist.:

„ Wenn die Zeit kam und der deutsche Adler kämpfte, würden Leute wie diese Frau Silber­mann keine Backsteinhäuser mit Gärten mehr besitzen.“ (10)

Die Metaphorik der rechten Scene und die Angst, die sie verbreitet

Die Metapher „der deutsche Adler kämpft“ lässt Böses ahnen. Der Adler hat als Wappentier eine lange Tradition. Er gilt als Zeichen der Amts- oder Staatsgewalt, als Reichsadler wie auch als Bundesadler. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin war ursprünglich ein Friedenszeichen, das für eine holländisch-preußische Allianz stand. Sie wurde eine Kriegs­beute Napoleons, dann aber bei dem Sieg des preußischen Heeres über die napoleoni­schen Truppen  zurückerobert. Der berühmte Baumeister Schinkel verwandelte die Friedens­göttin Eirene durch das Emblem des Adlers in ein Siegeszeichen. (vgl. Schinkel Gallerie, Abruf 01.12.2016)

In der Zeit des Nationalsozialismus war der Adler als allgegenwärtiges Emblem eine Chiffre für ihre Gewaltherrschaft und diente dem dritten Reich als Wappen und als Ehrenzeichen. In den Wunschvorstellungen Calvins besteht offensichtlich eine diffuse Vorstellung zur Reaktivie­rung dieses Dominanz- und Herrschaftsstrebens. Seine Identifikation mit seiner rech­ten Gruppe demonstriert er auf seinem Pullover mit einer schwarzen Sonne. Diese Contra­dic­tio in adiecto  ist eine Abwandlung der Swastika aus S-Runen. Schließlich erträgt er es sogar, dass ihm ein Hakenkreuz auf seiner Schulter eingebrannt wird.

Die Jury des Literaturpreises „Eselsohrs“ schreibt, dass der Roman “Ängste zulässt“. (Abruf: 1.12.2016) Die Angst wird explizit thematisiert:

„Ich … habe Angst davor, zurückzugehen“, sagte Nuri leise. „Und ich habe Angst da­vor, zu bleiben.“ (140)

Wie der Autor Peer Martin in dem Interview mit Sabine Hoss äußerte, ist die rechte Szene in Deutschland durchaus zu fürchten. Er hätte es nicht gewagt, den Roman in Deutschland zu veröffentlichen, wenn er nicht inzwischen mit seiner Familie in Canada lebe, vor allem weil er um seine Kinder bange und außerdem um seine Frau, die jüdische Vorfahren habe (vgl. Hoss, 2015). (Abruf: 03.12.2016)

In der Szene, in der Calvin Nuras Portemonnaies untersucht, welches sie am Bushäuschen verloren hatte, deutet sich seine Zerstörungswut an:

„Er holte das Feuerzeug aus der Tasche und ließ die Flamme hochschießen. Die Fotos sa­hen aus, als würden sie gut brennen.“ (49)

Der Konjunktiv II seiner Gedankenrede zeigt jedoch an, dass er zögert die Bilder zu zerstören. Das Hochschießen der Flamme kann als Prolepse für das explosive Hochschießen der Spreng­sätze beim Brand des Asylantenblocks gesehen werden. Ob er aus Machtkalkül zögert die Bilder zu verbrennen, oder weil er auf einem der Fotos Nura als kleines Mädchen erkannt haben will, bleibt offen. Die Tatsache aber, dass er nun den Wohnungsschlüssel Nuras in sei­nem Besitz hat, thematisiert er als einen Machtfaktor, den er auch gegenüber Pascal, dem Anfüh­rer seiner Clique, ausspielen will:

„Der Schlüssel gab ihm Macht. Er musste die Macht und ihre Möglichkeiten überden­ken, ehe er handelte.“ (49)

Calvin ist der Ideologie der rechten Scene fraglos verfallen. Solange er in der Sphäre seiner Clique argumentiert, sind seine knappen Sätze im Indikativ parataktisch aneinandergereiht, ohne Relativierung, ohne Modalitäten und ohne Verknüpfung durch erläuternde Nebensätze. Der Duktus lässt eine laute, schnelle, stakkatoartige Intonation erwarten. Durch die Aufzäh­lung von Gegensätzen wird betont, dass es im Denken des Jungen zu keiner Nivellierung kommt. Calvin argumentiert mit dem Frame von Wölfen die im Rudel jagen um ihre Beute zu schlagen (vgl. Zellerhoff, 2016). Diese martialische Vorstellung überkommt ihn bei einem evozierten Streit in einer Disco, in der er mit seiner Clique Ausländer attackiert, um seine anmaßenden Besitzansprüche durchzusetzen.

„Jason und Kevin traten einen Schritt vor, und auch Calvin trat einen Schritt vor, sein Blut sang, es war wie Jagen im Rudel. Sie waren stark und die Beute war schwach. Wir sind wie Wölfe, dachte er. Es war ein gutes Gefühl.“ (76)

Vorausschauend kann die Szene auf die unmenschliche Jagd seiner Clique auf ihn und auf Nura verweisen.

Calvins Verzauberung in Nuris Sphäre

Calvins Diktion ändert sich jedoch, als er in die Sphäre Nuras eintritt, vielmehr hineinstolpert. Ob­wohl er sich vornimmt, ein Gespräch mit Nuri ausdrücklich abzulehnen, sich gar in einer Gedankenrede ausmalt, Frau Silbermann seine geplante Kontaktverweigerung für ihn expres­sis verbis ins Arabische übersetzten zu lassen, verfängt er sich in Nuris Charme.

Nuri gelingt es ihm vorzuspielen, sie wolle von ihm Deutsch lernen und knüpft an die Szene im Wartehäuschen des Busses an, dem „Kristallpalast“, in dem sich die Liebesbeziehung des so gegensätzlichen Paares anbahnte. Und Calvin lässt sich auf ihre Sprachspielerei ein.

„Calvin stand auf. Er hatte alles vergessen, was er hatte sagen wollen. Alles darüber, dass ihn nichts interessierte. Sie sahen einander nur an, schweigend umgeben von den mai­grünen Büschen. Sie war, wenn er ihr begegnete, immer ganz anders, als wenn man von ferne an sie dachte. “ (51)

Die Analyse des Satzes : „Sie war, wenn er ihr begegnete, immer ganz anders, als wenn man von ferne an sie dachte“, macht einen bemerkenswerter Wandel in der Personenwahrnehmung Calvins deutlich. Die adverbiale Bestimmung /ganz anders/ ist indifferent, kann in diesem Kontext aber wohl nur bedeuten, dass Nuri nicht Calvins Vorurteilen über Asylanten ent­spricht. Das Indefinitpronomen /man/ des Nebensatzes kann eine verallgemeinernde, entpersön­lichte oder distanzierte Bedeutung ausdrücken, also nicht nur Calvin macht sich aus der Ferne ein anderes Bild von Nuri, sondern auch beliebige Andere, zum Beispiel die Jungen aus seiner Clique, und das liegt offensichtlich daran, weil sie Nuri nicht persönlich kennenge­lernt haben. Positiv gewendet bedeutet das Satzgefüge: Wenn du dir eine differenzierte Mei­nung über Asylanten bilden willst, so musst du sie näher kennenlernen.

Grammatisch ist der Nebensatz nicht ganz korrekt, denn der Vergleich mit /als wenn/ verlangt hier den Rückrestriktiv (Konjunktiv Plusquamperfekt):/gedacht hätte/ (vgl. Weinrich, 244). Da in der Umgangssprache jedoch der Konjunktiv verloren geht, zumal, wenn wie hier auch noch ein Wechsel des Stammvokals erforderlich wäre, entspricht das hier gewählte Präteritum wohl dem allgemeinen Sprachgebrauch. Denkbar ist aber auch eine Adaption an die arabische Sprache, denn Rafik Schami scheint das Plusquamperfekt ebenfalls zu vernachlässigen, wie aus seinem Buch vom Zauber der Zunge ersichtlich wird:

„Andere wiederum fragen sich laut, warum ich häufig das Präteritum und nicht das notwendige Plusquamperfekt benutze.“ (Schami, 1991, 15)

Der folgende Satz „Das Hassen klappte von Nahem nicht.“ (51) wird in sehr vielen Besprechun­gen des Buches zitiert. Es ist eine Kernaussage des Romans, in dem sich durch die Nähe der beiden Hauptfiguren eine tragfähige  Liebesbeziehung entwickelt, die so stark ist, dass die beiden selbst unter Todesgefahr füreinander einstehen.

Nuris Erzählwelt

Nuris Personbeschreibung ist durch ein dichtes Erzählgeflecht bestimmt, bei dem Gegenwart und Vergangenheit miteinander eng verwoben sind. Es gibt viele Rückblenden aber auch Voraus­verweise. Zunächst erzählt Nuri ihre Jugenderlebnisse in ihrer Primärsprache. Frau Silbermann, die in Israel als Übersetzerin gearbeitet hatte, bat Nuri sich mit ihr auf Arabisch zu unterhalten. Die ehemalige Lehrerin gab vor, dass sie nicht wolle, dass ihre Sprachkennt­nisse verlorengingen.  Nuria geht auf diesen Wunsch ein, obwohl sie bemerkt hatte, dass die alte Dame perfekt arabisch sprechen konnte. Sie glaubt, dass Frau Silbermann weitere Beweg­gründe hatte. Calvin vermutet, dass sie für Nuri Muttergefühle hegt:

„Ich glaube, du warst für sie die Tochter, die sie nie hatte. “ (473)

Denkbar wäre hier z.B. der Wunsch, Nuri in ihrer Traumabewältigung zu unterstützen, doch gibt es hierzu keine weiteren Angaben. Tatsächlich hat das Erzählen für Nura eine befreiende Wirkung. Im Beisein Calvins übersetzt Frau Silbermann ihre Texte ins Deutsche, sodass Calvin an den Erzählun­gen Nuris teilhaben kann.

Nuris Erzählungen unterscheiden sich wesentlich von Calvins Geschichten. Sie liebt es, die Erinnerungen ihrer Kindheit auszuschmücken und zwar so plastisch, dass sehr genaue Vorstel­lungsbilder entstehen können. Ihre Texte sind voller Poesie. Dabei spricht sie nicht nur den Sehsinn, sondern ganz häufig auch andere Sinneskanäle, wie das Schmecken, das Rie­chen und das Hören an. Die Aromen der Gewürze aus ihrer Heimat beschreibt sie sinnenfäl­lig. Aber auch die Stimmungen des Miteinanderlebens, wie auch des Miteinandererduldens und -erleidens macht sie erfahrbar. Ihr vorausschauendes Gespür für bedrohliche Ereignisse erlebt sie als schwarze Flügel, die das Leben ihrer Familie und schließlich auch ihr eigenes und das ihres Freundes bedrohen.

Die folgenden Beispiele aus Nuris Kindheitserzählungen zeigen die poetische Schreibweise des Autors. Die Beschreibung handelt von dem Fluss, an dessen Ufer Nuri mit ihren Geschwis­tern und Freunden spielte.

„ … und das war das Haus, das ich in meinem Leben am meisten geliebt habe. Es stand ganz nah am Wasser, ein weiß getünchter quadratischer Baustein mitten zwischen Man­deln, Granatäpfeln, Feigen und ja, natürlich Oliven.

Von jedem Fenster im Haus aus konnte man das Wasser hören, es murmelte durch die Flie­gengitter wie ein schlafloser, freundlicher Greis.“ (85)

Der Text weist eine Ebenmäßigkeit auf, die an das Fließen des Wassers erinnert. Durch Synek­do­chen wird der Text optimiert, so werden die Obstbäume pars pro toto nur durch ihre Früchte benannt. Das immerwährende Murmeln des Flusses beschreibt Nura lautmalerisch und stiftet durch eine Synästhesie die Vorstellung eines grummelnden schlaflosen Alten. Auch dieses einprägsame Vorstellungsbild ist onomatopoetisch. Einen reizvollen Kontrast zu der friedlichen und entschleunigten Erzählweise bildet jedoch die Beschreibung des Hauses,  als ein weiß getünchter quadratischer Baustein.

Nuri beschreibt den „verkehrten“ Fluss, den Nahr–al-Asi, der als einziger Fluss Syriens von Norden nach Süden fließt, sehr bildhaft und anthropomorphisierend einmal im Vergleich mit einem Riesen, dann als Gebärende eines geheimen Sohnes, seines Nebenflusses, den Nura mit ei­nem übermütigen Kind vergleicht.

„In Hama drehte er hohe, alte Wasserräder aus knarzendem, singendem Holz, als wäre er ein Riese und die Räder sein Spielzeug. (…)

Nicht weit hinter Homs gebar er einen geheimen Sohn, einen Nebenfluss. Eigentlich war es der Nebenfluss, an dem wir wohnten, ein nasses, fließendes, übermütiges Kind.“ ( 85)

Auch hier beschreibt Nuri das Geräusch der Mühlen mit lautmalerischen Adjektiven.

Mit der Übertragung menschlicher Eigenschaften auf den Fluss veranschaulicht sie das Er­zählte. Ein Fluss als Gebärende ist eine ungewöhnliche Metapher, doch wie Rafik Schami bemerkt, sei es für Syrer schwierig, das Genussystem des Deutschen zu erwerben, denn die arabische Sprache habe nur zwei Genera. Zudem wären viele Maskulina des Deutschen im Arabischen feminin vice versa (vgl. Schami 1991). Die Metapher der Geburt eines Nebenflus­ses legt die Vermutung nahe, dass auch Flüsse im Arabischen feminin sein könnten. Dies trifft aber nicht zu, denn Flüsse sind im Arabischen maskulin, wie mir die Übersetzerin des Projek­tes Lebensläufer des jungen Theaters in Leverkusen bestätigte,

Der Fluss heißt نهر (nahr) und ist männlich. Man sagt aber auch manchmal Meer zum Fluß (z.B. der Nil). Das wäre Bahr بحر und ist auch männlich (persönliche Mittei­lung).

Am letzten Satzgefüge soll gezeigt werden, dass Nuri sehr klangvoll erzählt. Der eher beiläu­fig formulierte Hauptsatz: „Eigentlich war es der Nebenfluss“ wird durch eine Apposition erweitert. Die drei Adjektive der Apposition werden eines nach dem anderen um eine Silbe länger und klingen durch die abwechselnden Hebungen und Senkungen sehr melodisch. Die Klanggestalt passt inhaltlich zur Aussage des Satzes. Durch einen eingeschobenen Nebensatz erhält die komplexe Satzstruktur Spannung. Form und Inhalt sind hier synchron.

Dass es ein öffentliches Verkehrsmittel in Syrien gegeben haben soll, bei dem der Boden fehlte, darf nicht wirklich wahr sein, es erscheint hier aber weniger erstaunlich, als dass Nuris Schwester Mariam bei der Busfahrt keine Lektüre dabei gehabt hätte. Die folgende Konstruk­tion lebt aus der prekären Situationskomik:

„Sie schleppte ständig Bücher mit sich herum: sie stieg in einen Bus ohne Boden aber nicht in einen Bus ohne Buch. “ (88)

Die Präposition /ohne/ setzt eine plausible Ergänzungs-Erwartung voraus, die sich hier im Falle eines öffentlichen Verkehrsmittels aus dem Wort- und Weltwissens ergibt, dass ein Bus einen Boden hat, was aber hier absurderweise negiert wird. Die parallelen Formen /Bus ohne Boden/ und /Bus ohne Buch/ sind beinahe eine Alliteration: In der deutschen Übersetzung beginnen alle Nomen mit dem stimmhaften bilabialen Plosiv. Doch diese Übereinstimmung könnte zu einem falschen Bezug verleiten: Die Präpositionaljunk­tion /nicht … ohne Buch/ bezieht sich ja nicht auf den Bus, sondern auf Mariam. Dieses Konstruktion stellt durch die doppelte Verneinung eine positive Aussage dar: für Nuris Schwester ist es also offensichtlich existenzieller ein Buch mitzunehmen, als mit einem intakten Bus zu fahren (vgl. Weinrich, 1993). Im Spielerischen dieser grammatischen Form zeigt sich eine hohe Erzählkunst.

Die Gefährdung des Kindheitsparadieses

Jussuf, ein verwöhnter, nichtsnutziger junger Mann, aus einer der einflussreichsten Familien des Nachbardorfes stammend, zeigte Interesse an Mariam. Anstatt sich sinnvoll zu beschäfti­gen, lungerte er mit seiner Angel am Fluss herum. Nuri hatte ihre Schwester gefragt, ob sie in Jussuf verliebt sei, was ihre Schwester mit „bestimmt nicht “ abstritt.

Als Nuri ihrer Schwester sagte, dass sie Angst vor Jussuf habe, antwortete diese:

„Und Jussuf ist nichts als ein hartnäckiger dummer Junge. Irgendwann wird er begrei­fen, dass ich nicht seine Frau werde. “ (89)

Jussuf hatte den Vater gefragt, ob Mariam seine Frau werden könne, doch der hatte ihm entgeg­net, dass seine Tochter mit siebzehn noch zu jung sei und außerdem selber entscheiden könne, wen sie zum Mann nähme. Das Adjektiv /hartnäckig/ deutet an, dass Jussuf Marian schon mehrmals angesprochen hatte.

An einem sonnigen Nachmittag als Mariam lesend am Fluss saß, näherte sich Jussuf von hin­ten, nahm  ihr das Buch weg und bedrängte sie sexuell. Sich von hinten anzunähern scheint für Jussuf typisch zu sein. Diese Art der Annäherung ist hinterlistig. Denkbar ist hier ein Voraus­verweis auf sein schmähliche Verhalten bei dem Versuch Nuri zu vergewaltigen. Als Jussuf seine Schwester bedrängte, konnte Nuri mit einem Steinwurf, der Jussufs Kopf traf, verhindern, dass er seine Schwester vergewaltigte, doch dabei rutsche sie von dem Baum, der über dem Fluss lag ab und fiel hinein. Jussuf ließ von der Schwester ab, und rettete Nuri, und er bedrängte anschließend auch die erst Elfjährige sexuell, doch sie konnte ihm entwischen.

Als Nuri einige Zeit später mit ihrem Jugendfreund Yassir spät abends am Fluss saß, kam Jussuf von hinten und behauptete, dass Nura ihm gehöre. Yassir, der seine Freundin verteidi­gen wollte,  verlor bei dem Kampf mit Jussuf das Gleichgewicht und stürzte in den reißenden Fluss. Zum Glück verfingt sich der Nichtschwimmer in einem umgestürzten Baum. Er wäre beinahe ertrunken, konnte aber „mehr tot als lebendig“ (111) mit schweren Blessuren gerettet werden.

Schweigen als Versuch einer Problembewältigung

Im folgenden Zitat beschreibt Nura im Kreis ihrer Familie den Tathergang aus ihrer Innen­sicht:

„Ich saß auf der Terrasse und redete und redete. Ich erzählte ihnen alles von Anfang an, und ich dachte, Mariam würde mir helfen, aber sie kochte nur Tee und brühte ihr Schweigen mit den Teeblättern auf, sodass wir es alle mittranken. Es lag ein Vorwurf in diesem Schweigen, den ich nicht verstand.“ (111)

Schweigen ist eine Art der Problembewältigung, die aber weitere Probleme schaffen kann.

Psychologisch gedeutet kann das Schweigen die neurotische Abwehr traumatisierender Ereig­nisse und Konflikte sein. Dieses Schweigen muss nicht unbedingt absichtsvoll  geschehen. Neben den (Tiefen-)psychologischen und medizinischen Deutungsmuster gibt es noch viele andere Erklärungsversuche, die seit den 90er Jahren auch organische und hirnorganische Verursa­chungen nicht ausschließen und sprachtherapeutische Rehabilitationsangebote vorse­hen (vgl. Hartmann, 2014).

Hier scheint das Verstummen der Schwester aber ein Versuch zu sein, zu überspielen, dass sie nicht rechtzeitig den Eltern von der versuchten Vergewaltigung durch Jussuf berichtet hatte, denn sonst wäre ihrer kleinen Schwester der sexuelle Übergriff erspart geblieben. Nuri empfin­det in dieser Situation das Schweigen der Schwester als Vorwurf. Das rührt möglicher­weise daher, dass diese doch heimlich in den recht ansehnlichen Jussuf verliebt war.  Durch das Schleudern des Steines auf die Kopf des Widersachers war die Annäherung der beiden aber zunichte gemacht worden. In dem Falle kann das Schweigen auch verhindern, dass die Familie merkt, dass Mariam der sich anbahnende Liebesbeziehung nachtrauert. Dass sie so scheinbar leichthin die Gesprächssituation mit Teekochen überspielt, bewahrt Mariam vor der Kon­frontation. Sie verteilt das Schweigen mit dem Tee und ist damit von Reden und Antwort­geben suspendiert. Indirekt gebietet sie damit aber auch den anderen Familienmitgliedern zu schweigen. Die metaphorische Wortwahl stellt eine Verfremdung dar (vgl. Andreotti, 2014). Es besteht eine spürbare Distanz zwischen der Alltagssprache und der hier verwendeten phantasti­schen Bildsprache sowie eine Verdinglichung eines Verhaltens durch die Beschrei­bung eines an sich trivialen Vorgangs, des Teekochens und -ausschenkens. Die Situation erin­nert an ein Ritual, an die japanische Teezeremonie. Der Unterschied ist aber evident: nach dem Zubereiten und dem Ausschenken des Tees beginnt in Japan die Kommunikation, wäh­rend hier eine Hauptprotagonistin den sprachlichen Austausch durch ihr Tun verhindert. Ihr Aktionismus stellt möglicherweise eine Übersprunghandlung dar.

Nuri und Calvin – doch (k)ein Traumpaar

Nachdem sich Calvin von seiner rechten Clique losgesagt hatte, änderte sich auch sein Sprachstil. Nuri hatte ihn nach dem Waterboarding durch seine ehemaligen Freunde wiederbelebt. Die Beiden konnten, da ihnen Frau Silbermann großzügiger weise ihren Wagen überließ, vor ihren Widersachern fliehen und fanden endlich in einem kleinen Waldstück ein ruhiges Plätzchen zum Ausspannen.

„Jetzt hing zwischen den Wipfeln des Waldes eine blaue Nachdenklichkeit.“ (473)

Die Poesie dieses Vorstellungsbildes liegt in der Melodieführung. Der Lebensraum des Waldes gibt Schutz, um in der blauen Stunde, der Zeit zwischen Tag und Nacht, die Erinne­rung kommen zu lassen und die Muße zur Bewältigung der traumatischen Vorkomm­nisse zu finden. Die Verknüpfung der Nachdenklichkeit mit dem Farbsymbols blau ist zu dieser besinnlichen Tageszeit passend gewählt. Die Vorstellung, dass die Nach­denklichkeit zwischen den Wipfeln des Waldes hängt, ist möglicherweise eine Entleh­nung des romantischen Nachtliedes von J. W. v. Goethe: „Über allen Gipfeln ist Ruh´.“  Wie dort schwebt die Ruhe von den Wipfeln auf die ermatteten Menschen nieder, wie dort sind die Konsonanten überwiegend stimmhaft, hier besonders das weiche Genitiv­adjunkt /des Waldes/, bei dem die Auslautverhärtung des bilabialen Plosivs stellungs­bedingt aufgehoben ist.

Mit einer neuen Identität hätten Calvin und Nura vielleicht eine Chance gehabt, zusam­men zu bleiben, doch die Greueltaten der rechten Jugendgang beenden auf perfider Weise diesen Traum.

Fazit

Mit der eingehenden Betrachtung einiger Textstellen konnte ich zeigen, dass Peer Martin die beiden Protagonisten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, durch eine sprachlich sehr differenzierte personale Gestaltung der Erzählsituation charakteri­siert.

Während Calvin, solange er noch der rechten Szene angehört, sich einer monoperspektivi­sche Erzählweise bedient, sehr pauschalierend über Asylanten spricht und vorgefer­tigte Meinungen unhinterfragt übernimmt, drückt sich Nuri sehr differen­ziert aus. Das Besondere an ihrem Erzählstil ist ihre ausgeprägte Synästhesie, mit der sie ihre Heimat mit allen Sinnen erfasst. Ihre  Erzählweise ist sehr poetisch, ihre Sprachbil­der phantasievoll, Metaphern helfen das Erzählte zu veranschaulichen. Mit den Schilde­run­gen über ihre Heimat, die sie aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, gelingt es ihr, diese vor den Zuhörern lebendig werden zu lassen. Trotz ihrer Wehmut über den Ver­lust der Heimat ist Nuras Erzählhaltung eher positiv. Ihre Erzählkunst brachte Calvin ihr Hei­matland so nahe, dass er äußerte, sich in ihr Land zu verlieben.

In Rezensionen und  Begründungen der Jurys der vielen Literaturpreise, die Peer Martin für sein mutiges Buch gewonnen hat, wird immer wieder die poetische Sprache des Bu­ches hervorgehoben. Mit diesem Text wollte ich dem Phänomen nachgehen und kann bestätigen, dass der Autor Peer Martin als fiktiver Erzähler eine zauberhaft poetische Sprache gefunden hat, mit der er vielperspektivisch die beiden Hauptfiguren seines Ro­mans  sowohl in der Außensicht als zum Teil auch aus ihrer Innensicht beschreibt.

Literatur:

Andreotti, M. (2014): Zur Struktur der modernen Literatur: neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik; mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen, Bern: Haupt (5. überarbeitete und ergänzte Aufl.) (1. Aufl. 1983)

Buchners Lektürebegleiter Deutsch (2016): Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, bearbeitet von Stefan Gora, Bamberg: C.C.Buchner Verlag

Hartmann, B. (2014): Mutismus. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie, Stutgart: Kohlhammer, (249-255)

Hoss, S. (2015): Interview mit Peer Martin am 09.03.2015 www.buecher-leben.de, (Abruf: 03.12.2016)                    

Schami, R. (2006): Die Frau die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde. München: Hanser Verlag

Schami, R. (1998): Vom Zauber der Zunge. Reden gegen das Verstummen, München: dtv

www.schinkel-gallerie.de.Berlin_Quadriga.html (Abruf 01.12.2016)

Weinrich, H. (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim u.a.: Dudenverlag

Zellerhoff, R  (2016): Komplexe sprachliche Formen in der Jugendliteratur. Aufgezeigt an Beispielen preisgekrönter Werke der Jugendjury des Deutschen Jugendliteratur­prei­ses, Frankfurt/M: Peter Lang Edition, Serie ZOOM, Bd. 6

 

 

 

Monographie: Komplexe sprachliche Strukturen in der Jugendliteratur

Aufgezeigt an Beispielen preisgekrönter Werke der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises

rita

Das Buch untersucht die sprachliche Komplexität preisgekrönter Kinder- und Jugendliteratur. Diese weist sprachlich komplexe Formen auf, wie sie früher nur in Werken der Erwachsenenliteratur zu finden waren. Damit die Heranwachsenden die für sie bestimmten Schriften gewinnbringend nutzen können, müssen sie also über eine literarische Bildung auf hohem Niveau verfügen. In der Bildungspolitik vorhandene Tendenzen zur Vereinfachung von Sprache werden vor diesem Hintergrund kritisch beleuchtet.

Erschienen bei Peter Lang Edition, Frankfurt am Main, 2016, Reihe ZOOM, 132 Seiten.

Erhältlich als Buch // PDF // E-book(EPUB)  ISBN: 9783631675380  DOI: http://dx.doi.org/10.3726/978-3-653-06963-1

Monographie:
Vielfalt der sprachlichen Bildung

Handlungsorientierte und erfahrungsoffene Wege zur Sprachkultur

Peter Lang Verlag,  Frankfurt am Main, Berlin, …. 2013. 225 S.
Print:    ISBN 978-3-631-62983-3 geb. (Hardcover)
Deutschland: € 42.00
Online bestellen: www.peterlang.com

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Beitrag in Fachzeitschrift:
Kann die Förderung der auditiven Wahrnehmung in Bezug auf die Schriftsprachaneignung obsolet sein?

Praxis Sprache, Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik. Sprachtherapie und Sprachförderung (dgs). 58, 3,2ß13, 197

Die auditive Wahrnehmungsförderung ist noch kein Garant für eine problemlose Aneignung der deutschen Schriftsprache, denn eine isolierte Förderung der auditiven Wahrnehmung reicht nicht aus, damit sich Kinder die komplexen Strukturen der deutschen Schriftsprache aneignen können.

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Beitrag in Sammelwerk:
Diagnostik bei Mehrsprachigkeit als Prozess

Zellerhoff, R, (2011 b) Diagnostik bei Mehrsprachigkeit als Prozess. In: Bräu, K., Carle, U.  Kunze, I. (Hrsg):: Differenzierung, Integration, Inklusion. Was Können wir vom Umgang mit Heterogenität an Kindergärten und Schulen in Südtirol lernen? Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, ISBN: 978-3-8340-0882-4

(gekürzte, aktualisierte Fassung des Aufsatzes 2010 b)

Rezension zu:
Kracht, A.: Pädagogische Professionalität

Kracht, A.: Pädagogische Professionalität in der Sprachförderung und der Sprachtherapie. Eine professionalitätstheoretische Analyse im Kontext der Sprachbehindertenpädagogik. Shaker Verlag GmbH, Aachen, 2010, ISBN: 978-3-8322-9359-8

In: mitSprache, Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik (ÖGS), 1, 2012, 77-82

Rezension zu:
Üensal, F.: Laute üben:Türkisch – Deutsch

Ünsal, F. (2007): Laute üben: Türkisch – Deutsch, Schubi-Lernmedien AG: Schaffhausen, ISBN: 978-3-86723-028-5, 164 Seiten, mit CD-Rom, 39,90 Euro

in: dgs: Praxis Sprache, 58. Jahrg. 1, 2013, 65

Rezension zu:
LiSe-DaZ. Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache.

Schulz. P. & Tracy. R. (2011): LiSe-DaZ. Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache.

in: L.O.G.O.S INTERDISZIPLINÄR, 20. März 2012, 68-69

Rezension zu:
Didaktik für eine gelebte Mehrsprachigkeit.

Cichon, Peter & Cichon, Ludmilla (Hrsg.) (2009):  Didaktik für eine gelebte Mehrsprachigkeit.  Wien: Praesens, 2009. ISBN 978-3706905756. 140 Seiten, 21,30 Euro. Rezension 2011

in: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht, 16 (2011) 1, 80-83 (online; Zeitschriftenaufsatz)

Rezension zu:
Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz.

Bär, Marcus (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10. Tübingen: Narr (= Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik). ISBN 3823365312. 576 Seiten, 55,00    Euro.

in: Zeitschrift für interkulturellen  Fremdsprachenunterricht, 16 (2011) 2, 222-226 (online; Zeitschriftenaufsatz)

Beitrag in Sammelwerk:
Zuhören lernen

In: Pabst-Weinschenk, Marita (Hrsg.):  Anwendungsfelder kooperativer Rhetorik. Beiträge der Sprechkontakte in memoriam Elmar Bartsch. Alpen: Pabst Press (2011) S. 66-79,  ISBN: 978-3-941238-16-9

Zuhören ist ein hochkomplexer und kooperativer Prozess, bei dem Vergleichsprozesse in Gang gesetzt werden. Hörmuster sind ebenso erlernt wie Sprechmuster. In der Mediation sieht Bartsch eine Chance, gemeinsam neue Zeichen, sowohl formal als auch inhaltlich zu entwickeln, damit die Verständigung gelingt.

 

Beitrag in Fachzeitschrift:
Auditive Wahrnehmungsförderung und ihre Bedeutung für die Schriftsprachaneignung mehrsprachiger Schüler

In: Die Sprachheilarbeit, 5/6,  275-281, 2011

Damit mehrsprachige Kinder sich die Strukturen der deutschen Schriftsprache aneignen können, wird hier eine spezielle Unterweisung vorgeschlagen. Mit ihr sollen erwartbare Schwierigkeiten, die sich aus den sprachstrukturellen Unterschieden der Ausgangssprachen der Kinder ergeben, entgegnet werden. An Beispielen wird gezeigt, wie die Übungen in eine umfassende sprachliche Förderung integriert werden können. Die hier gezeigten Lernprinzi­pien können auch für mono­linguale Kinder mit phonologischen Differenzierungsschwächen hilfreich sein.

 

Beitrag in Fachzeitschrift:
Wir bauen eine Brücke – Experimente mit Papier

In: Frühes Deutsch,  Fachzeitschrift für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Heft 22, 20. Jahrg. April 2011, Goethe-Institut: Klett

Handlungsorientierte Arbeitsformen wie die aktive Umwelterkundung sind im Hinblick auf mehrsprachige Schüler bedeutsam, denn sie erlauben eine unmittelbare Anschauung. Konkrete Objekte dienen dem spielerischen und dem praktisch-konstruktiven Handeln und sind dabei Ausgangspunkt für kommunikatives Handeln und sprachliche Bildung.

Beitrag in Sammelwerk:
Sprecherziehung in der Ausbildung von Lehramtsanwärterinnen und Lehr­amtsanwärtern

 

In: Pabst-Weinschenk (Hrsg:) (2011): Handbuch Sprechwissenschaft und Sprecherziehung, München: Ernst Reinhardt, UTB, 323 – 325, (aktualisierte Fassung aus 1. Aufl. 2004)

Durch ihre Unmittelbarkeit ermöglicht die Stimme eine lebendige Auseinandersetzung und eine aktuelle und differenzierte Steuerung des schulischen Lernprozesses. Hier wird aufgezeigt, wie im Rahmen der zweiten Phase der Lehrerausbildung geeignete Situationen geschaffen werden, um zukünftige Lehrer und Lehrerinnen zu befähigen, ihre Stimme angemessen als Medium zu verwenden und sie gesund zu erhalten. Allgemeingültige Lernhinweise zur Professionalisierung des sprachlichen Austauschs, wie Wohlspannung, Stimmgebung, Artikulation, Modulation und Sicherung des Hörverstehens können Bestandteile aller Unterrichtsfächer und Fachbereiche sein und bei Bedarf zusätzlich individuell nach Unterrichtsbesuchen angesprochen werden. Da Stimme aber als sehr ich-nah erlebt wird, kann es hilfreich sein, eine persönliche Beratung von den beurteilungsrelevanten Unterrichtsbesuchen abzukoppeln. Als Alternative kann eine tiefer­gehende Beratung mit frei zu wählenden Fachleitern oder logopädisch geschulten Fachleuten durchgeführt werden. Eine Kooperation mit Studierenden der Sprecherziehung wird hier als eine gangbare Alternative vorgestellt.

–       Stimme als Medium, Schaffen günstiger Ausgangssituationen

–       Wohlspannung, Modulation, Artikulation

–       Sicherung des Hörverstehens durch Verbesserung der Wahrnehmung und der Aufmerksam­keit

–       Abkopplung von Beurteilung und Beratung

–       Kooperation mit Sprecherziehern/Logopäden

Beitrag in Fachzeitschrift:
Diagnostik bei Mehrsprachigkeit.

 

In: mitSprache (Österreichische Gesellschaft für Sprachheilpädagogik), Nr. 2/2010, 42. Jahrgang, 7-28

Die kommunikativen Fähigkeiten mehrsprachiger Kinder zu erfassenist ein hochkomplexer Pro­zess, der nicht mit einer Sprachstandsmessung zu erfassen ist. Aktuelle wissenschaftliche Forschungen begleiten die Sprachentwicklung mehrsprachiger Kin­der als Prozess.Wenn es gelingt, die impliziten Kenntnisse der sprachlichen Vorgänge mehr­sprachiger Kinder zu erhellen (vgl. FRANCESCHINI, 2009), können ihre Kompetenzen besser eingeschätzt werden. Dies ist entscheidend für eine Förderung, die an der „Stufe der nächsten Entwicklung“ ansetzen muss. Dazu ist eine begleitende Beobachtung unabdingbar. Es besteht Aussicht auf die Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten, reliabelen und gut zu handhabenden Diagnoseverfahrens, das ErzieherInnen und PädagogInnen das Rüstzeug bietet, diese „Meilen­steine“ zu erkennen. Es wird empfohlen, die Förderung nicht losgelöst stattfinden zu lassen, son­dern sie in den Kindergarten- und Schulalltag einzubetten. Im Editorial der o. gen. Zeitschrift schreibt die Herausgeberin Christine Merhaut: „Sie (Zellerhoff) schreibt unter anderem, dass es für mehrsprachige Kinder sehr wichtig ist, dass ihre Umgebung die Zweitsprachigkeit wertschätzt.“ (4f).

–       Sprachfähigkeit

–       grammatische Strukturprinzipien

–       Sprachentwicklung

–       Entwicklung der Mehrsprachigkeit

–       Persönlichkeitsentwicklung

–       Kommunikative Kompetenz

–       Diagnoseverfahren

–       ressourcenorientierte Förderung

 

Beitrag in Fachzeitschrift:
Didaktik der Mehrsprachigkeit in Unterricht und Therapie.

In:  L.O.G.O.S INTERDISZIPLINÄR, 1/2010, 30-34

Das Recht der Kinder auf Mehrsprachigkeit ist in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Na­tionen verankert (vgl. United Nations 1998). Hier wird ein Perspektivwechsel in der Bewertung von Multilingualismus aufgezeigt, der zu neuen Wegen in der sprachlichen Bildung mehrspra­chiger Kinder führt. Dabei erweist sich die Förderung der lebensweltlich bedeutsamen Sprachen vor dem kulturellen Hintergrund mehrsprachiger Kinder als Herausforderung. Es werden ermuti­gende Entwicklungen, wie die Zunahme von Europaschulen vorgestellt. Um die sprachtherapeu­tische Förderung mehrsprachiger Kinder zu gewährleisten, werden zukunftsweisende Ausbil­dungsperspektiven vorgestellt.

–       Migration

–       Didaktik

–       Mehrsprachigkeit

–       sprachliche Bildung

–       Europaschulen

 

 

Beitrag aus Fachzeitschrift:
Didaktik der Mehrsprachigkeit in Unterricht und Therapie.

In:  L.O.G.O.S INTERDISZIPLINÄR, 1/2010, 30-34

Das Recht der Kinder auf Mehrsprachigkeit ist in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Na­tionen verankert (vgl. United Nations 1998). Hier wird ein Perspektivwechsel in der Bewertung von Multilingualismus aufgezeigt, der zu neuen Wegen in der sprachlichen Bildung mehrspra­chiger Kinder führt. Dabei erweist sich die Förderung der lebensweltlich bedeutsamen Sprachen vor dem kulturellen Hintergrund mehrsprachiger Kinder als Herausforderung. Es werden ermuti­gende Entwicklungen, wie die Zunahme von Europaschulen vorgestellt. Um die sprachtherapeu­tische Förderung mehrsprachiger Kinder zu gewährleisten, werden zukunftsweisende Ausbil­dungsperspektiven vorgestellt.

–       Migration

–       Didaktik

–       Mehrsprachigkeit

–       sprachliche Bildung

–       Europaschulen

Monographie:
Didaktik der Mehrsprachigkeit

Didaktische Konzepte zur Förderung der Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Schulformübergreifende Konzepte unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes Sprache, (2009) Frankfurt/M.: Peter Lang, ISBN: 978-3-631-58569-6

Die Mehrsprachigkeit der Schüler ist eine Chance, wenn es gelingt alle ihre Sprachen auf einem hohen Niveau zu fördern. Perspektive dieses Buches ist die Konzeption einer schulformübergrei­fenden Didaktik der Mehrsprachigkeit, Dazu werden neueste didaktische Ansätze zur mehrspra­chigen Bildung vorgestellt sowie relevante Erkenntnisse aus der Psychologie, der Linguistik und aus den vergleichenden Sprachwissenschaften integriert. Neue förderdiagnostische Konzeptio­nen und pädagogisch-therapeutische Prozesse der Sprachheilpädagogik und die aktuellen didak­tischen Weiterentwicklungen systemischer und reformpädagogischer Konzeptionen werden adaptiert, um der Dynamik und Vielfalt der sprachlichen Bildung mehrsprachiger Schüler ge­recht zu werden. Didaktisch differenzierte Entscheidungen sind anschaulich mit methodischen Beispielen  aus der langjährigen Tätigkeit der Autorin in Schule, Hochschule und Studiensemi­nar belegt. ((Inhaltsverzeichnis vgl. UB Düsseldorf oder Frankfurt))

Rezensiert von:

Dipl. Logopädin U. Hild (Univ. Nijmegen). In: Forum Logopädie 5/2009. S.71 (abrufbar)

Prof. Dr. E. Ockel (Vechta) in: Muttersprache 2/2010, 152

Dr. R. Bahr, Schulleiter FöSchule Sprache in Essen. In: Die Sprachheilarbeit 3/2010 , 151f

Link zum Verlag:

Peter Lang, Frankfurt /  New York

Beitrag in Sammelwerk:
Handlungsorientierung als Hilfe zum Verständnis komplexer Zusam­menhänge.

 

In: Kolberg, T. (Hrsg.): Sprachtherapeutische Förderung im Unterricht, Stuttgart: Kohlhammer, 82-103 (Anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Otto Braun, Humboldt-Universität zu Berlin)

vgl. den Ausschnitt aus der Rezension von Prof. Dr. Elmar Bartsch, der in der Sprachheilar­beit (dgs), 4/2010, 199-201 erschienen ist:

Frau Zellerhoff (…) entwickelte unterrichtliche Methoden in allen linguistischen Aspekten von Pragmatik, Semantik und Lexik, Morphologie und Syntax. Unter 1) „Sprachtherapeutischer Unterricht“ plädiert sie (mit O. Braun) für Flexibilität gegen­über den Stoffplänen. Hier zeigt sich bereits, dass die Einordnung ihres Artikels in die Abteilung „IV Kognitionstheoretische Konzepte“ nur teilweise berechtigt ist. Zwar ist der kognitive Zugriff immer gegenwärtig, das Hauptgewicht liegt jedoch auf der Handlungsorientierung. 2) Auf der Basis einer Handlungstheorie von 1983, die mit Bruner vom enaktiven Erleben über das ikonische „Bilden“ zum symbolischen Denken führt, sieht sie den maßgebenden didakti­schen Prozess. So können Kinder gegenüber den Handlungsmustern der Erwachsenen auch ei­gene Bedeutungsmuster gewinnen und aktivieren. So brauche 3) jede Schule für Sprachbehin­derte einen weiten Spielraum für die Differen­zialdiagnostik und die kompensatorische Entfal­tung von Fähigkeitspotenzialen. Unter 4) „Qualitätskriterien für den sprachtherapeutischen Un­terricht“ zeigt Frau Zellerhoff die Bedeutung des kommunikativen Unterrichts. Bei 5) „Didakti­schen Entscheidungen“ wird deutlich, dass im jahrgangsübergreifender Unterricht die Wiede­raufnahme von Gelerntem wichtig bleibt (Spiralcurriculum). Unter 6) zeigt sie nun an verschie­denen Klassen – 1, 2, 3, 4-6 – konkrete Beispiele für Hand­lungsschritte und ihre therapeutische Wirkung. Dieser Teil S. 85-102 ist von hohem informati­vem didaktischem Wert. U. a. werden beim Basteln Sprachbarrieren zwischen behinderten Schülern und Senioren verdeutlicht. Bei „Spielzeug ist kein Werkzeug“ S. 90-93. zeigt Zellerhoff, wie Bedeutung aus dem „Weltwissen der Kinder“ (Szagun) abzu­leiten ist. Ein Projekt „Unser SCHUL-SPIEL-HOF “ S.93-97 erfor­derte kooperative Handlungsformen, den korrekten Einsatz sprachlicher Vergleiche und das Ein­gehen auf Partner-Perspektiven. Der Aufsatz von Frau Zellerhoff verbindet eine klare Konzep­tion handlungsorientierter Sprach­heilpädagogik mit sehr konkreten, persönlichen Darstellungen.“

–       Sprachtherapeutischer Unterricht (nach Otto Braun)

–       kommunikativ – pragmatische Förderung durch Handlungsorientierung

–       Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge

Beitrag in Sammelwerk:
Hilfen zur Aneignung der deutschen Sprache für mehrsprachige Kinder.

In: Kolberg, T.; Otto, K.; Wahn, C. (2002): Phänomen Sprache: Laut- und Schriftsprachstörungen unter veränderten Kommunikationsbedingungen. Bericht der XXV. dgs – Kongress vom 3.-5. Oktober in Halle an der Saale, 603 -632

Die Relevanz der Primärsprache für die sprachliche und intellektuelle Entwicklung der Kinder wird betont. Auf pragmatischer Ebene dient die Primärsprache dem Auf- und Ausbau sprachli­cher Handlungskompetenz. Sie gewinnt eine besondere Bedeutung für die Persönlichkeitsent­wicklung als Ausdrucksmittel zur Darstellung der Identität.

Mit der Akzeptanz der sprachlichen Vielfalt kann die Mehrsprachigkeit auch für monolinguale Kinder nutzbar gemacht werden, denn durch Sprachvergleiche können Gemeinsamkeiten erfah­ren und Strukturprinzipien bewusst wahrgenommen werden. Die linguistische Aufmerksamkeit wird geschult und die linguistische Diversität verdeutlicht. Multikulturelle Texte zeigen die kul­turelle Vielfalt auf. Die Förderung der Mehrsprachigkeit wird an konkreten Beispielen in der Schule mit primär tür­kischsprechenden und in der ambulanter Therapie und mit primär polnischsprechenden Kindern aufgezeigt. Hier wird im Sinne des sprachtherapeutischen Unterrichts nach Otto Braun ein handlungs- und erfahrungsoffener Unterricht beschrieben, der die Schüler zu kommunikati­vem Austausch befähigt. Unter Berücksichtigung der Entwicklungsstufen nach Bruner können die Schüler die ihnen gemäße Abstraktionsstufe wählen, ausgehend von konkretem Tun über die symbolische Repräsentation bis zur Abstraktion. Dem Schriftspracherwerb wird hier eine beson­dere Bedeutung zugemessen, ist er doch als Voraussetzung für die „kognitiv-akademischen Fä­higkeiten“ (Fthenakis u. a. 1985) von hoher Bedeutung für den Bildungserfolg aller Kinder.

–       Förderung der Mehrsprachigkeit

–       Bedeutung der Primärsprache

–       mehrsprachige Kinder mit besonderem sprachlichem Förderbedarf

–       sprachtherapeutischer Unterricht nach Otto Braun

–       schulische Therapie mit Kindern, die primärsprachlich türkisch aufgewachsen sind

–       ambulante Therapie mit Kindern, die primärsprachlich polnisch aufgewachsen sind

Beitrag in Sammelwerk:
Zuhören Lernen.

In: Lemke, S. (Hrsg.) (2001): Sprechwissenschaft­ler/in und Sprecherzieher/in. Eignung und Qualifikation, München, Basel: E. Reinhardt Verlag, 123-127 (Sprache und Sprechen Bd. 39)

Stille zu erfahren, zur Ruhe zu kommen und zu lauschen sind wichtige Voraussetzungen um zuhö­ren zu können. Kinder brauchen eine erzieherische Anleitung um zur Ruhe zu finden, oft genügen dazu minimale Impulse, freundliche Gesten oder aufmunternde Blicke. Auditiv wahr­nehmungsgestörte Kinder haben manchmal Schwierigkeiten, Stille auszuhalten. Ihnen kann durch aktive Stilleübungen, wie z.B. durch die Stilleübungen nach Montessori geholfen werden. Durch einfühlendes Verstehen und Zeichen der Bereitschaft (Türöffner) erfährt der Partner die nö­tige Zuwendung, denn um zuhören zu lernen, ist die Erfahrung wichtig, dass einem selbst auch zugehört wird. Signale wie Feedback, Aktives Zuhören (im Sinne Carl Rogers) und Prozesse der wechselseitigen Selbstakzentuierung (im Sinne Ruth Cohns) können zur Sicherung der Verstän­digung beitragen. Schon in der Schule können Jugendliche diese Fähigkeiten in Mediati­ons­programmen lernen.

–       zur Ruhe kommen, Zuhören lernen

–        Stille aushalten, aktive Stilleübungen

–       Zeichen der Zuwendung: Feedback, Aktives Zuhören, Mediation

Beitrag in Fachzeitschrift:
Fonetische und phonolgische Aspekte des Schriftspracherwerbs

 

… Denn ohne ach hat mein Haus kein Dach“ – Fonetische und pho­no­logische Aspekte des Schriftspracherwerbs unter besonderer Berück­sichti­gung von Mehrsprachigkeit. In: L:O:G:O:S: Interdisziplinär, 9, Ausg. 2,   84 -93

Um sich die Schriftsprache anzueignen, bedarf es einer analytischen Haltung gegenüber der Sprache, die nicht bei allen Kindern vorausgesetzt werden kann. Sicher gibt es Kinder, die sich die Schriftsprache en passant aneignen. Bei ihnen genügt das Interesse des Lehrers, der ihre richtigen Hypothesen zur Verschriftlichung bestätigt. Doch das Erlernen der deutschen Schrift­sprache ist recht komplex und viele Kinder, zumal solche, die in den sprachtragenden Prozessen beeinträchtigt sind, benötigen besonders organisierte Hilfen. Das Wissen um die fonetisch-pho­nologischen Aspekte ist eine wichtige Voraussetzung für adäquate Hilfestellungen. Sprachver­gleiche können gewinnbringend für den Schriftspracherwerb mehrsprachiger Schüler sowie für die linguistische Aufmerksamkeit aller Schüler genutzt werden.

–       phonologische Beziehung von Sprachsystem und Schrift

–       Prinzipien der Verschriftlichung

–       Kritik an lautorientierten Lernprozessen

–       linguistische Aufmerksamkeit

–       strukturierte Hilfen, z.B. situativ bedeutsame auditive Differenzierung

 

 

Beitrag in Sammelwerk:
Stottern aus der Sicht einer Lehrerin.

In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.) (1992): Störungen der Redefähigkeit. Handbuch der Sprachtherapie Band 5, Ber­lin: Edition Marhold, ISBN: 3-89166-444-3, 192 -205

Um zu einer mehrperspektivischen Sicht des Phänomens Stottern zu kommen, bedarf es einer le­bendige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Theorien über die Genese, das Andauern und die Behandlung des Stotterns. In der praktischen Arbeit an einer Schule für Sprachbehinderte erwies sich der Austausch zwischen Kollegen, die Zusammenarbeit mit Eltern, Psychologen, Sozialarbeitern und Grundschulpädagogen als hilfreich. Eine wesentliche Vorraussetzung für die Rehabilitation war jedoch die Annahme des Kindes in seinem So-Sein. Unabhängig von der Primärsymptomatik fanden nicht nur die weiteren sprachlichen, sondern auch die sozialen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder Beachtung. An einem Fallbeispiel wird die handlungsorientierte Therapie nach Bartsch vorgestellt, jedoch nicht losgelöst als Einzeltherapie, sondern im Kontext der sozialen Beziehungen des Kindes, das schließlich in die Grundschule reintegriert werden konnte.

–       handlungsorientierte Therapie das Stotterns – Fallbeispiel

–       prosoziale Einstellung der Schülergruppe als „immanente Therapie“

–       Zusammenarbeit mit Eltern

–       Kooperation mit der Grundschule – Rückschulung

Beitrag in Sammelwerk:
Sprachliche Abweichungen bei mehrsprachigen Schülern – erwartbare Schwierigkeiten oder Störungen?

In: Vorderwüllbecke, K. für den FaDaF (Hrsg.) (1992): Phonetik, Ausspracheschulung und Sprecherziehung im Bereich Deutsch als Fremdsprache, 157 -163, (Fachtagung Sept. 1990 in Regensburg): Kuns-Verlag, Aachen

Bei der Diagnose der sprachlichen Fähigkeiten mehrsprachiger Schüler reicht eine monolinguale Betrachtungsweise nicht aus. Vielmehr kommen die folgenden Aspekte in den Fokus:

–       in welchem Alter wurde das Kind mit weiteren Sprachen konfrontiert

–       wurden die Sprachen parallel oder sukzessiv dargeboten

–       hatten sie unmittelbare Bedeutung für die Lebenssituation des Kindes

–       war das Sprachenangebot ausreichend

–       gibt es sprachstrukturelle oder semantische Ähnlichkeiten zwischen den angebotenen Spra­chen?

Um die Sprachentwicklung in den Primärsprachen des Kindes einzuschätzen, ist die Zusammen­arbeit mir den Eltern hilfreich. Eine Kooperation mit Diagnostikern in den Primärsprachen der Schüler ist wünschenswert.

–       Diagnostik bei Mehrsprachigkeit

–       Störung oder Abweichung

–       Redehemmungen

–       Phonetik und Phonologie

–       vergleichende Linguistik

Beitrag in Sammelwerk:
Handlungsorientierung in Unterricht und Therapie der Schule für Sprachbehinderte.

In: Pabst-Weinschenk, M.; Lüschow, F. (Hrsg.) (1991): Mündliche Kommu­nikation als kooperativer Prozeß, Frankfurt/M.: Peter Lang, 96 – 103, (Elmar Bartsch zum 60. Geburtstag gewidmet)

Es ist offensichtlich, dass viele unserer Kinder an einem erheblichen Aktivitätsverlust leiden und dadurch in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit erheblich beeinträchtigt sind. In diesem Aufsatz wird der handlungsorientierte Therapieansatz nach Bartsch vorgestellt, der sich auf die russische Schule der Sprachpsychologie bezieht. Hier wird an Beispielen aus der Schule für Sprachbehin­derte die praktische Umsetzbarkeit dieses Ansatzes in Unterricht und Therapie mit Elementen der Montessoripädagogik, der Wahrnehmungsintegration in „Problemlösenden Geschehnissen“ nach Affolter und der Arbeit in Projekten gezeigt.

–       Handlungsorientierter Therapieansatz (Elmar Bartsch)

–       Aneignungstheorie (Leont´ev)

–       „Hilf mir es selbst zu tun“ (Montessori)

–       Problemlösende Altersgeschehnisse“ (Affolter)

–       Arbeit in Projekten

Beitrag in Sammelwerk:
Förderung des Selbstkonzeptes durch Metakommunikation

„… das kann ja jedem `mal passieren“ – Ein Beitrag zur Selbstverwirkli­chung eines verhaltensauffälligen, sprachbehinderten Schülers mit Hilfe metakommunikativen Verhaltens. In: Kluge K.- J., Sievert, U. (Hrsg.) (1990): Lernen als Dialog, Band II, Teil A, München: Minerva Publikation 95 -272, ( 1. Staatsarbeit, Universität zu Köln, Sondererziehung und Reha­bilitation der Erziehungsschwierigen, Lehrstuhl Prof. Dr. K.- J. Kluge)

Es wird gezeigt, wie in einem gesprächstherapeutischen Prozess das Selbstkonzept eines vielfach verunsicherten Jungen aufgerichtet werden konnte. Durch Aktives Zuhören in Sinne Rogers wurde das Vertrauen in die Selbstaktualisierungstendenz des Kindes seitens aller Beteiligten gestärkt. Hierzu trugen auch die Gespräche mit den Eltern bei, die zunächst durch zu hohe Er­wartungshaltungen das selbstakzeptierende Verhalten des Kindes blockierten. Beachtenswert waren die Toleranz und das Verständnis, mit der die Klassenkameraden auffälli­ges Verhalten des Jungen ertrugen. Lehrer können hier Modell für eine emo­tional tragfähige Klassenatmosphäre sein, indem sie aufmerksam zuhören, Aufnahme­bereitschaft zei­gen und signalisieren, Feedback geben und durch Aktives Zuhören die Aussagen der Ge­sprächs­partner in deren Sinne verstehen und spiegeln. Wie die erziehungstherapeutische Arbeit zu selbsakzeptierendem und sozialisier­ten Verhalten bei­tragen konnte, wurde an der konkreten Fallgeschichte des Jungen mit einer wechselvollen Lebensgeschichte gezeigt. Die Leitlinien, die Rogers in seinem Buch „Erziehung in Freiheit“ aufgestellt hat, waren dabei bestimmend.

–        Selbstaktualisierung

–       Sprachverweigerung

–       „Umzug tut weh“ (Gerber, Gisela)

–       nondirektive Gesprächstherapie  (Rogers, C. R)

Beitrag in Sammelwerk:
Innere Differenzierung in der Eingangsklasse der Schule für Sprachbehinderte

In: Kongressbericht: Sonderpädagogik vor Ort, Düsseldorf, 26.05.88, Hrsg.: vds Landesverband NW, Düsseldorf 4/88, 150-154

Nach Montessori will sich jedes Kind weiterentwickeln, wenn es nur die geeigneten Mittel und ausreichend Zeit zur Verfügung hat. In dem Beitrag werden vor allem Mittel zur Förderung der Wahrnehmung und der Koordination von Wahrnehmungsleistungen vorgestellt. Beispielhaft wird eine vorbereitete Umgebung aufgezeigt, in der die Schüler die taktil-kinästhetische Wahr­neh­mung, die visuelle Wahrnehmung und die visuomotorische Koordination sowie die auditive Wahrnehmung erproben können. Im sozialen Miteinander des täglichen Lebens werden integra­tiver Wahrnehmungsleistungen gefördert. Damit Kinder ihre Lernprozesse weitgehend selbstän­dig planen und gestalten können, benötigen sie Freiraum zum kommunikativen Austausch. Letztlich müssen sie sich aber von der Anschauung lösen, um zur Abstraktion zu gelangen. Das Interagie­ren in Paaren oder kleinen Gruppen kommt besonders Kindern mit Störungen des Rede­flusses oder sprechängstlichen Kindern zu gute.

–       Förderschule Sprache

–       Eingangsklasse

–       Innere Differenzierung

–       Freie Arbeit

–       Wahrnehmungsförderung

–       Abstraktion