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Rezension zu Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln

Besprechung des Erstlingswerk von Peer Martin ins besondere unter dem Aspekt der sprachlichen Charakterisierung der beiden Hauptfiguren Nuri und Calvin.

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Abstract:

Die Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises kürte ein beeindruckendes Buch, das aktuelle Probleme im Zusammenleben eines geflüchteten jungen Mädchens aus Syrien und eines Jugendlichen aus dem rechten Milieu einer Plattenhaussiedlung in Deutschland aufzeigt.

Hier soll die besondere sprachliche Qualität in der Charakterisierung der Hauptpersonen beschrie­ben werden, die in fast allen Besprechungen und Würdigungen der großen Anzahl von Preisverleihungen als beachtenswert herausgestellt wurde.

 

 

Fragestellung:

In der Begründung der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises wird ein eklatanter Unterschied zwischen den Erzählmodi er beiden Protagonisten bemerkt:

„Nuri erzählt märchenhaft und poetisch, Calvin drastisch und ungeschliffen.“

(Abruf: 29.11.2016)

Wie charakterisiert der Autor die Hauptfiguren durch ihre je unterschiedliche Erzählweise ?

Erzähltraditionen

Der Autor Peer Martin erwähnt, dass sein Buch im Sommer 2015 entstanden sei, in dem er sich mit einem syrischen Freund bei weiten Spaziergängen in Mecklenburg –Vorpommern an der Küste der Ostsee ausgetauscht habe. Es ist zu vermuten, dass der Autor hierbei auch viel über die oralen Traditionen Syriens erfahren hat, denn er zeichnet die epische Figur des syri­schen Mädchens Nura durch diese phantastische Weise des Erzählens aus.

In der arabischen Welt hat sich eine bedeutende Tradition des Geschichtenerzählens etabliert. Der syrische Schriftsteller Rafik Schami, der bereits 1971 aus Syrien flüchtete, weil er wegen seiner regimekritischen Wandzeitungen verfolgt wurde, beschreibt in seinen Büchern die Kunst des Märchenerzählens und ihre Hochkultur, wie sie traditionell in den Caféhäusern von Damaskus gepflegt wurde. Das phantastische Erzählen von Märchen, Fabeln und Parabeln lebte in Rafik Schamis Heimat von Utopien und Fiktionen. Er schildert in seinen Erzählungen über das Erzählen die Wechselwirkungen von Erzähler und Zuhörern, die sich in der Kunst des Fabulierens gegenseitig steigerten. Rafik Schami, der in seiner Wahlheimat Deutschland auf Deutsch schreibt, möchte die Erzähltraditionen der europäischen und der arabischen Welt bei gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung miteinander verbinden. Diesen Wunsch trägt er in seinen lebendigen Lesungen vor, in denen er aber nicht aus seinen neuen Büchern vor­liest, sondern über deren Inhalte erzählt, so bei der Vorstellung seines Buches: Die Frau die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (2006), die ich miterleben durfte und auf die ich mich hier beziehe.

Peer Martin berichtet in einem Interview, dass er Informationen über Syrien aus Rafik Schamis Büchern gewonnen habe. Außerdem gibt er an, er habe ein Jahr intensiv die Hinter­gründe seines Romans recherchiert aber schon viele Jahre vorher Informationen von Studienkol­le­gen erhalten, die aus Syrien stammten. Die Informationen über die rechte Ju­gendszene habe er aus seiner sozialpädagogischen Arbeit mit rechtslastigen Jugendlichen gewon­nen, wie er in einem Interview mit Stephan Gora berichtet (vgl. Buchners Lektürebeglei­ter, 2016).

Mit einer sehr bildhaften Sprache zeichnet Peer Martin nicht nur die epische Figur von Nura, die weibliche Protagonistin, sondern auch ihre Sphären, von denen sich Calvin, ihr Gegenspie­ler anfänglich deutlich sowohl inhaltlich als auch in seiner Diktion abgrenzt. Beson­ders auffällig sind die unterschiedlichen Tempi mit denen ihre extrem unterschiedlichen Lebenswelten beschrieben werden.

Im Haus einer alten Dame, der ehemaligen Lehrerin Frau Silbermann

Ein Schnittpunkt, an dem die beiden Sprachwelten aufeinandertreffen, ist das Haus einer

ehemaligen Lehrerin, Frau Silbermann, die wegen der Erbschaft eines alten Hauses in einem verwunschenen Garten aus Israel nach Deutschland zurückgekommen ist. Ihre Fluchterfah­rung aus dem Nazideutschland deutet der Autor an. Die Lehrerin, die sich um die sprachliche Bildung von Calvins jüngeren Brüdern kümmert, verfügt über arabische Sprachkenntnisse, sodass sie in Israel als Übersetzerin arbeiten konnte. Sie vermittelt so den ersten Kontakt zwi­schen Nura, genannt Nuri und Calvin. Der folgende Ausschnitt spielt im Haus der Lehrerin.

Nuri beschreibt die Andenkensammlung im Treppenraum und die Möblierung des Raumes in dem sie auf die Lehrerin wartet und auch die Stimmung, die das Licht bei ihr hervorruft, sehr ausführlich und liebevoll.

„Das Zimmer war schön, voller Teppiche, voller Farben, voller Bücher, voller Licht. Das Licht wurde von den Ranken draußen gefiltert, und es war grün.

Grün. Grün war die Farbe der Felder ….

Aber sie hatten die Felder angezündet.“ (8)

Hier steigert der Autor in einer Epanalepse die Bedeutung des Wortes GRÜN, mit dem Nura eine schmerzhafte Erinnerung an ihre Heimat verknüpft.

Calvin betrachtet Frau Silbermanns Haus sehr kritisch. Aus seiner Gedankenrede ist sein Sozial­neid zu spüren:

„Grün. Grün ist die Farbe des Lebens. (…) und er sah sie an und wusste, dass die Stunde des Adlers kommen würde – des deutschen Adlers, der das Land zurückverlangte. Er, Calvin Lüttke, würde dabei sein, wenn um das Land gekämpft wurde.“ (9f)

„Grün. Grün war die Farbe der Erneuerung. Doch das Grün der Ranken an dem alten Haus war ein anderes, ein irgendwie undeutsches, unordentliches Grün. (…) Er sah daran empor und dachte an die tristen grauen Blöcke des Großstadtviertels. In den winzigen Wohnungen wucherte nur der Schimmel an den Wänden.“ (10)

Auch hier wird durch die Wiederholung die Bedeutung des Wortes GRÜN gesteigert. Grün ist eine Farbe, die in ihrer positiven Symbolkraft für den Neuanfang steht, die aber auch eine negative Konnotation aufweist, wie die des Neides und des Giftes. Aus der Gedankenrede Calvins lässt sich folgern, dass er sich benachteiligt fühlt und auf andere Menschen, denen es besser geht, neidisch ist.:

„ Wenn die Zeit kam und der deutsche Adler kämpfte, würden Leute wie diese Frau Silber­mann keine Backsteinhäuser mit Gärten mehr besitzen.“ (10)

Die Metaphorik der rechten Scene und die Angst, die sie verbreitet

Die Metapher „der deutsche Adler kämpft“ lässt Böses ahnen. Der Adler hat als Wappentier eine lange Tradition. Er gilt als Zeichen der Amts- oder Staatsgewalt, als Reichsadler wie auch als Bundesadler. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin war ursprünglich ein Friedenszeichen, das für eine holländisch-preußische Allianz stand. Sie wurde eine Kriegs­beute Napoleons, dann aber bei dem Sieg des preußischen Heeres über die napoleoni­schen Truppen  zurückerobert. Der berühmte Baumeister Schinkel verwandelte die Friedens­göttin Eirene durch das Emblem des Adlers in ein Siegeszeichen. (vgl. Schinkel Gallerie, Abruf 01.12.2016)

In der Zeit des Nationalsozialismus war der Adler als allgegenwärtiges Emblem eine Chiffre für ihre Gewaltherrschaft und diente dem dritten Reich als Wappen und als Ehrenzeichen. In den Wunschvorstellungen Calvins besteht offensichtlich eine diffuse Vorstellung zur Reaktivie­rung dieses Dominanz- und Herrschaftsstrebens. Seine Identifikation mit seiner rech­ten Gruppe demonstriert er auf seinem Pullover mit einer schwarzen Sonne. Diese Contra­dic­tio in adiecto  ist eine Abwandlung der Swastika aus S-Runen. Schließlich erträgt er es sogar, dass ihm ein Hakenkreuz auf seiner Schulter eingebrannt wird.

Die Jury des Literaturpreises „Eselsohrs“ schreibt, dass der Roman “Ängste zulässt“. (Abruf: 1.12.2016) Die Angst wird explizit thematisiert:

„Ich … habe Angst davor, zurückzugehen“, sagte Nuri leise. „Und ich habe Angst da­vor, zu bleiben.“ (140)

Wie der Autor Peer Martin in dem Interview mit Sabine Hoss äußerte, ist die rechte Szene in Deutschland durchaus zu fürchten. Er hätte es nicht gewagt, den Roman in Deutschland zu veröffentlichen, wenn er nicht inzwischen mit seiner Familie in Canada lebe, vor allem weil er um seine Kinder bange und außerdem um seine Frau, die jüdische Vorfahren habe (vgl. Hoss, 2015). (Abruf: 03.12.2016)

In der Szene, in der Calvin Nuras Portemonnaies untersucht, welches sie am Bushäuschen verloren hatte, deutet sich seine Zerstörungswut an:

„Er holte das Feuerzeug aus der Tasche und ließ die Flamme hochschießen. Die Fotos sa­hen aus, als würden sie gut brennen.“ (49)

Der Konjunktiv II seiner Gedankenrede zeigt jedoch an, dass er zögert die Bilder zu zerstören. Das Hochschießen der Flamme kann als Prolepse für das explosive Hochschießen der Spreng­sätze beim Brand des Asylantenblocks gesehen werden. Ob er aus Machtkalkül zögert die Bilder zu verbrennen, oder weil er auf einem der Fotos Nura als kleines Mädchen erkannt haben will, bleibt offen. Die Tatsache aber, dass er nun den Wohnungsschlüssel Nuras in sei­nem Besitz hat, thematisiert er als einen Machtfaktor, den er auch gegenüber Pascal, dem Anfüh­rer seiner Clique, ausspielen will:

„Der Schlüssel gab ihm Macht. Er musste die Macht und ihre Möglichkeiten überden­ken, ehe er handelte.“ (49)

Calvin ist der Ideologie der rechten Scene fraglos verfallen. Solange er in der Sphäre seiner Clique argumentiert, sind seine knappen Sätze im Indikativ parataktisch aneinandergereiht, ohne Relativierung, ohne Modalitäten und ohne Verknüpfung durch erläuternde Nebensätze. Der Duktus lässt eine laute, schnelle, stakkatoartige Intonation erwarten. Durch die Aufzäh­lung von Gegensätzen wird betont, dass es im Denken des Jungen zu keiner Nivellierung kommt. Calvin argumentiert mit dem Frame von Wölfen die im Rudel jagen um ihre Beute zu schlagen (vgl. Zellerhoff, 2016). Diese martialische Vorstellung überkommt ihn bei einem evozierten Streit in einer Disco, in der er mit seiner Clique Ausländer attackiert, um seine anmaßenden Besitzansprüche durchzusetzen.

„Jason und Kevin traten einen Schritt vor, und auch Calvin trat einen Schritt vor, sein Blut sang, es war wie Jagen im Rudel. Sie waren stark und die Beute war schwach. Wir sind wie Wölfe, dachte er. Es war ein gutes Gefühl.“ (76)

Vorausschauend kann die Szene auf die unmenschliche Jagd seiner Clique auf ihn und auf Nura verweisen.

Calvins Verzauberung in Nuris Sphäre

Calvins Diktion ändert sich jedoch, als er in die Sphäre Nuras eintritt, vielmehr hineinstolpert. Ob­wohl er sich vornimmt, ein Gespräch mit Nuri ausdrücklich abzulehnen, sich gar in einer Gedankenrede ausmalt, Frau Silbermann seine geplante Kontaktverweigerung für ihn expres­sis verbis ins Arabische übersetzten zu lassen, verfängt er sich in Nuris Charme.

Nuri gelingt es ihm vorzuspielen, sie wolle von ihm Deutsch lernen und knüpft an die Szene im Wartehäuschen des Busses an, dem „Kristallpalast“, in dem sich die Liebesbeziehung des so gegensätzlichen Paares anbahnte. Und Calvin lässt sich auf ihre Sprachspielerei ein.

„Calvin stand auf. Er hatte alles vergessen, was er hatte sagen wollen. Alles darüber, dass ihn nichts interessierte. Sie sahen einander nur an, schweigend umgeben von den mai­grünen Büschen. Sie war, wenn er ihr begegnete, immer ganz anders, als wenn man von ferne an sie dachte. “ (51)

Die Analyse des Satzes : „Sie war, wenn er ihr begegnete, immer ganz anders, als wenn man von ferne an sie dachte“, macht einen bemerkenswerter Wandel in der Personenwahrnehmung Calvins deutlich. Die adverbiale Bestimmung /ganz anders/ ist indifferent, kann in diesem Kontext aber wohl nur bedeuten, dass Nuri nicht Calvins Vorurteilen über Asylanten ent­spricht. Das Indefinitpronomen /man/ des Nebensatzes kann eine verallgemeinernde, entpersön­lichte oder distanzierte Bedeutung ausdrücken, also nicht nur Calvin macht sich aus der Ferne ein anderes Bild von Nuri, sondern auch beliebige Andere, zum Beispiel die Jungen aus seiner Clique, und das liegt offensichtlich daran, weil sie Nuri nicht persönlich kennenge­lernt haben. Positiv gewendet bedeutet das Satzgefüge: Wenn du dir eine differenzierte Mei­nung über Asylanten bilden willst, so musst du sie näher kennenlernen.

Grammatisch ist der Nebensatz nicht ganz korrekt, denn der Vergleich mit /als wenn/ verlangt hier den Rückrestriktiv (Konjunktiv Plusquamperfekt):/gedacht hätte/ (vgl. Weinrich, 244). Da in der Umgangssprache jedoch der Konjunktiv verloren geht, zumal, wenn wie hier auch noch ein Wechsel des Stammvokals erforderlich wäre, entspricht das hier gewählte Präteritum wohl dem allgemeinen Sprachgebrauch. Denkbar ist aber auch eine Adaption an die arabische Sprache, denn Rafik Schami scheint das Plusquamperfekt ebenfalls zu vernachlässigen, wie aus seinem Buch vom Zauber der Zunge ersichtlich wird:

„Andere wiederum fragen sich laut, warum ich häufig das Präteritum und nicht das notwendige Plusquamperfekt benutze.“ (Schami, 1991, 15)

Der folgende Satz „Das Hassen klappte von Nahem nicht.“ (51) wird in sehr vielen Besprechun­gen des Buches zitiert. Es ist eine Kernaussage des Romans, in dem sich durch die Nähe der beiden Hauptfiguren eine tragfähige  Liebesbeziehung entwickelt, die so stark ist, dass die beiden selbst unter Todesgefahr füreinander einstehen.

Nuris Erzählwelt

Nuris Personbeschreibung ist durch ein dichtes Erzählgeflecht bestimmt, bei dem Gegenwart und Vergangenheit miteinander eng verwoben sind. Es gibt viele Rückblenden aber auch Voraus­verweise. Zunächst erzählt Nuri ihre Jugenderlebnisse in ihrer Primärsprache. Frau Silbermann, die in Israel als Übersetzerin gearbeitet hatte, bat Nuri sich mit ihr auf Arabisch zu unterhalten. Die ehemalige Lehrerin gab vor, dass sie nicht wolle, dass ihre Sprachkennt­nisse verlorengingen.  Nuria geht auf diesen Wunsch ein, obwohl sie bemerkt hatte, dass die alte Dame perfekt arabisch sprechen konnte. Sie glaubt, dass Frau Silbermann weitere Beweg­gründe hatte. Calvin vermutet, dass sie für Nuri Muttergefühle hegt:

„Ich glaube, du warst für sie die Tochter, die sie nie hatte. “ (473)

Denkbar wäre hier z.B. der Wunsch, Nuri in ihrer Traumabewältigung zu unterstützen, doch gibt es hierzu keine weiteren Angaben. Tatsächlich hat das Erzählen für Nura eine befreiende Wirkung. Im Beisein Calvins übersetzt Frau Silbermann ihre Texte ins Deutsche, sodass Calvin an den Erzählun­gen Nuris teilhaben kann.

Nuris Erzählungen unterscheiden sich wesentlich von Calvins Geschichten. Sie liebt es, die Erinnerungen ihrer Kindheit auszuschmücken und zwar so plastisch, dass sehr genaue Vorstel­lungsbilder entstehen können. Ihre Texte sind voller Poesie. Dabei spricht sie nicht nur den Sehsinn, sondern ganz häufig auch andere Sinneskanäle, wie das Schmecken, das Rie­chen und das Hören an. Die Aromen der Gewürze aus ihrer Heimat beschreibt sie sinnenfäl­lig. Aber auch die Stimmungen des Miteinanderlebens, wie auch des Miteinandererduldens und -erleidens macht sie erfahrbar. Ihr vorausschauendes Gespür für bedrohliche Ereignisse erlebt sie als schwarze Flügel, die das Leben ihrer Familie und schließlich auch ihr eigenes und das ihres Freundes bedrohen.

Die folgenden Beispiele aus Nuris Kindheitserzählungen zeigen die poetische Schreibweise des Autors. Die Beschreibung handelt von dem Fluss, an dessen Ufer Nuri mit ihren Geschwis­tern und Freunden spielte.

„ … und das war das Haus, das ich in meinem Leben am meisten geliebt habe. Es stand ganz nah am Wasser, ein weiß getünchter quadratischer Baustein mitten zwischen Man­deln, Granatäpfeln, Feigen und ja, natürlich Oliven.

Von jedem Fenster im Haus aus konnte man das Wasser hören, es murmelte durch die Flie­gengitter wie ein schlafloser, freundlicher Greis.“ (85)

Der Text weist eine Ebenmäßigkeit auf, die an das Fließen des Wassers erinnert. Durch Synek­do­chen wird der Text optimiert, so werden die Obstbäume pars pro toto nur durch ihre Früchte benannt. Das immerwährende Murmeln des Flusses beschreibt Nura lautmalerisch und stiftet durch eine Synästhesie die Vorstellung eines grummelnden schlaflosen Alten. Auch dieses einprägsame Vorstellungsbild ist onomatopoetisch. Einen reizvollen Kontrast zu der friedlichen und entschleunigten Erzählweise bildet jedoch die Beschreibung des Hauses,  als ein weiß getünchter quadratischer Baustein.

Nuri beschreibt den „verkehrten“ Fluss, den Nahr–al-Asi, der als einziger Fluss Syriens von Norden nach Süden fließt, sehr bildhaft und anthropomorphisierend einmal im Vergleich mit einem Riesen, dann als Gebärende eines geheimen Sohnes, seines Nebenflusses, den Nura mit ei­nem übermütigen Kind vergleicht.

„In Hama drehte er hohe, alte Wasserräder aus knarzendem, singendem Holz, als wäre er ein Riese und die Räder sein Spielzeug. (…)

Nicht weit hinter Homs gebar er einen geheimen Sohn, einen Nebenfluss. Eigentlich war es der Nebenfluss, an dem wir wohnten, ein nasses, fließendes, übermütiges Kind.“ ( 85)

Auch hier beschreibt Nuri das Geräusch der Mühlen mit lautmalerischen Adjektiven.

Mit der Übertragung menschlicher Eigenschaften auf den Fluss veranschaulicht sie das Er­zählte. Ein Fluss als Gebärende ist eine ungewöhnliche Metapher, doch wie Rafik Schami bemerkt, sei es für Syrer schwierig, das Genussystem des Deutschen zu erwerben, denn die arabische Sprache habe nur zwei Genera. Zudem wären viele Maskulina des Deutschen im Arabischen feminin vice versa (vgl. Schami 1991). Die Metapher der Geburt eines Nebenflus­ses legt die Vermutung nahe, dass auch Flüsse im Arabischen feminin sein könnten. Dies trifft aber nicht zu, denn Flüsse sind im Arabischen maskulin, wie mir die Übersetzerin des Projek­tes Lebensläufer des jungen Theaters in Leverkusen bestätigte,

Der Fluss heißt نهر (nahr) und ist männlich. Man sagt aber auch manchmal Meer zum Fluß (z.B. der Nil). Das wäre Bahr بحر und ist auch männlich (persönliche Mittei­lung).

Am letzten Satzgefüge soll gezeigt werden, dass Nuri sehr klangvoll erzählt. Der eher beiläu­fig formulierte Hauptsatz: „Eigentlich war es der Nebenfluss“ wird durch eine Apposition erweitert. Die drei Adjektive der Apposition werden eines nach dem anderen um eine Silbe länger und klingen durch die abwechselnden Hebungen und Senkungen sehr melodisch. Die Klanggestalt passt inhaltlich zur Aussage des Satzes. Durch einen eingeschobenen Nebensatz erhält die komplexe Satzstruktur Spannung. Form und Inhalt sind hier synchron.

Dass es ein öffentliches Verkehrsmittel in Syrien gegeben haben soll, bei dem der Boden fehlte, darf nicht wirklich wahr sein, es erscheint hier aber weniger erstaunlich, als dass Nuris Schwester Mariam bei der Busfahrt keine Lektüre dabei gehabt hätte. Die folgende Konstruk­tion lebt aus der prekären Situationskomik:

„Sie schleppte ständig Bücher mit sich herum: sie stieg in einen Bus ohne Boden aber nicht in einen Bus ohne Buch. “ (88)

Die Präposition /ohne/ setzt eine plausible Ergänzungs-Erwartung voraus, die sich hier im Falle eines öffentlichen Verkehrsmittels aus dem Wort- und Weltwissens ergibt, dass ein Bus einen Boden hat, was aber hier absurderweise negiert wird. Die parallelen Formen /Bus ohne Boden/ und /Bus ohne Buch/ sind beinahe eine Alliteration: In der deutschen Übersetzung beginnen alle Nomen mit dem stimmhaften bilabialen Plosiv. Doch diese Übereinstimmung könnte zu einem falschen Bezug verleiten: Die Präpositionaljunk­tion /nicht … ohne Buch/ bezieht sich ja nicht auf den Bus, sondern auf Mariam. Dieses Konstruktion stellt durch die doppelte Verneinung eine positive Aussage dar: für Nuris Schwester ist es also offensichtlich existenzieller ein Buch mitzunehmen, als mit einem intakten Bus zu fahren (vgl. Weinrich, 1993). Im Spielerischen dieser grammatischen Form zeigt sich eine hohe Erzählkunst.

Die Gefährdung des Kindheitsparadieses

Jussuf, ein verwöhnter, nichtsnutziger junger Mann, aus einer der einflussreichsten Familien des Nachbardorfes stammend, zeigte Interesse an Mariam. Anstatt sich sinnvoll zu beschäfti­gen, lungerte er mit seiner Angel am Fluss herum. Nuri hatte ihre Schwester gefragt, ob sie in Jussuf verliebt sei, was ihre Schwester mit „bestimmt nicht “ abstritt.

Als Nuri ihrer Schwester sagte, dass sie Angst vor Jussuf habe, antwortete diese:

„Und Jussuf ist nichts als ein hartnäckiger dummer Junge. Irgendwann wird er begrei­fen, dass ich nicht seine Frau werde. “ (89)

Jussuf hatte den Vater gefragt, ob Mariam seine Frau werden könne, doch der hatte ihm entgeg­net, dass seine Tochter mit siebzehn noch zu jung sei und außerdem selber entscheiden könne, wen sie zum Mann nähme. Das Adjektiv /hartnäckig/ deutet an, dass Jussuf Marian schon mehrmals angesprochen hatte.

An einem sonnigen Nachmittag als Mariam lesend am Fluss saß, näherte sich Jussuf von hin­ten, nahm  ihr das Buch weg und bedrängte sie sexuell. Sich von hinten anzunähern scheint für Jussuf typisch zu sein. Diese Art der Annäherung ist hinterlistig. Denkbar ist hier ein Voraus­verweis auf sein schmähliche Verhalten bei dem Versuch Nuri zu vergewaltigen. Als Jussuf seine Schwester bedrängte, konnte Nuri mit einem Steinwurf, der Jussufs Kopf traf, verhindern, dass er seine Schwester vergewaltigte, doch dabei rutsche sie von dem Baum, der über dem Fluss lag ab und fiel hinein. Jussuf ließ von der Schwester ab, und rettete Nuri, und er bedrängte anschließend auch die erst Elfjährige sexuell, doch sie konnte ihm entwischen.

Als Nuri einige Zeit später mit ihrem Jugendfreund Yassir spät abends am Fluss saß, kam Jussuf von hinten und behauptete, dass Nura ihm gehöre. Yassir, der seine Freundin verteidi­gen wollte,  verlor bei dem Kampf mit Jussuf das Gleichgewicht und stürzte in den reißenden Fluss. Zum Glück verfingt sich der Nichtschwimmer in einem umgestürzten Baum. Er wäre beinahe ertrunken, konnte aber „mehr tot als lebendig“ (111) mit schweren Blessuren gerettet werden.

Schweigen als Versuch einer Problembewältigung

Im folgenden Zitat beschreibt Nura im Kreis ihrer Familie den Tathergang aus ihrer Innen­sicht:

„Ich saß auf der Terrasse und redete und redete. Ich erzählte ihnen alles von Anfang an, und ich dachte, Mariam würde mir helfen, aber sie kochte nur Tee und brühte ihr Schweigen mit den Teeblättern auf, sodass wir es alle mittranken. Es lag ein Vorwurf in diesem Schweigen, den ich nicht verstand.“ (111)

Schweigen ist eine Art der Problembewältigung, die aber weitere Probleme schaffen kann.

Psychologisch gedeutet kann das Schweigen die neurotische Abwehr traumatisierender Ereig­nisse und Konflikte sein. Dieses Schweigen muss nicht unbedingt absichtsvoll  geschehen. Neben den (Tiefen-)psychologischen und medizinischen Deutungsmuster gibt es noch viele andere Erklärungsversuche, die seit den 90er Jahren auch organische und hirnorganische Verursa­chungen nicht ausschließen und sprachtherapeutische Rehabilitationsangebote vorse­hen (vgl. Hartmann, 2014).

Hier scheint das Verstummen der Schwester aber ein Versuch zu sein, zu überspielen, dass sie nicht rechtzeitig den Eltern von der versuchten Vergewaltigung durch Jussuf berichtet hatte, denn sonst wäre ihrer kleinen Schwester der sexuelle Übergriff erspart geblieben. Nuri empfin­det in dieser Situation das Schweigen der Schwester als Vorwurf. Das rührt möglicher­weise daher, dass diese doch heimlich in den recht ansehnlichen Jussuf verliebt war.  Durch das Schleudern des Steines auf die Kopf des Widersachers war die Annäherung der beiden aber zunichte gemacht worden. In dem Falle kann das Schweigen auch verhindern, dass die Familie merkt, dass Mariam der sich anbahnende Liebesbeziehung nachtrauert. Dass sie so scheinbar leichthin die Gesprächssituation mit Teekochen überspielt, bewahrt Mariam vor der Kon­frontation. Sie verteilt das Schweigen mit dem Tee und ist damit von Reden und Antwort­geben suspendiert. Indirekt gebietet sie damit aber auch den anderen Familienmitgliedern zu schweigen. Die metaphorische Wortwahl stellt eine Verfremdung dar (vgl. Andreotti, 2014). Es besteht eine spürbare Distanz zwischen der Alltagssprache und der hier verwendeten phantasti­schen Bildsprache sowie eine Verdinglichung eines Verhaltens durch die Beschrei­bung eines an sich trivialen Vorgangs, des Teekochens und -ausschenkens. Die Situation erin­nert an ein Ritual, an die japanische Teezeremonie. Der Unterschied ist aber evident: nach dem Zubereiten und dem Ausschenken des Tees beginnt in Japan die Kommunikation, wäh­rend hier eine Hauptprotagonistin den sprachlichen Austausch durch ihr Tun verhindert. Ihr Aktionismus stellt möglicherweise eine Übersprunghandlung dar.

Nuri und Calvin – doch (k)ein Traumpaar

Nachdem sich Calvin von seiner rechten Clique losgesagt hatte, änderte sich auch sein Sprachstil. Nuri hatte ihn nach dem Waterboarding durch seine ehemaligen Freunde wiederbelebt. Die Beiden konnten, da ihnen Frau Silbermann großzügiger weise ihren Wagen überließ, vor ihren Widersachern fliehen und fanden endlich in einem kleinen Waldstück ein ruhiges Plätzchen zum Ausspannen.

„Jetzt hing zwischen den Wipfeln des Waldes eine blaue Nachdenklichkeit.“ (473)

Die Poesie dieses Vorstellungsbildes liegt in der Melodieführung. Der Lebensraum des Waldes gibt Schutz, um in der blauen Stunde, der Zeit zwischen Tag und Nacht, die Erinne­rung kommen zu lassen und die Muße zur Bewältigung der traumatischen Vorkomm­nisse zu finden. Die Verknüpfung der Nachdenklichkeit mit dem Farbsymbols blau ist zu dieser besinnlichen Tageszeit passend gewählt. Die Vorstellung, dass die Nach­denklichkeit zwischen den Wipfeln des Waldes hängt, ist möglicherweise eine Entleh­nung des romantischen Nachtliedes von J. W. v. Goethe: „Über allen Gipfeln ist Ruh´.“  Wie dort schwebt die Ruhe von den Wipfeln auf die ermatteten Menschen nieder, wie dort sind die Konsonanten überwiegend stimmhaft, hier besonders das weiche Genitiv­adjunkt /des Waldes/, bei dem die Auslautverhärtung des bilabialen Plosivs stellungs­bedingt aufgehoben ist.

Mit einer neuen Identität hätten Calvin und Nura vielleicht eine Chance gehabt, zusam­men zu bleiben, doch die Greueltaten der rechten Jugendgang beenden auf perfider Weise diesen Traum.

Fazit

Mit der eingehenden Betrachtung einiger Textstellen konnte ich zeigen, dass Peer Martin die beiden Protagonisten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, durch eine sprachlich sehr differenzierte personale Gestaltung der Erzählsituation charakteri­siert.

Während Calvin, solange er noch der rechten Szene angehört, sich einer monoperspektivi­sche Erzählweise bedient, sehr pauschalierend über Asylanten spricht und vorgefer­tigte Meinungen unhinterfragt übernimmt, drückt sich Nuri sehr differen­ziert aus. Das Besondere an ihrem Erzählstil ist ihre ausgeprägte Synästhesie, mit der sie ihre Heimat mit allen Sinnen erfasst. Ihre  Erzählweise ist sehr poetisch, ihre Sprachbil­der phantasievoll, Metaphern helfen das Erzählte zu veranschaulichen. Mit den Schilde­run­gen über ihre Heimat, die sie aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, gelingt es ihr, diese vor den Zuhörern lebendig werden zu lassen. Trotz ihrer Wehmut über den Ver­lust der Heimat ist Nuras Erzählhaltung eher positiv. Ihre Erzählkunst brachte Calvin ihr Hei­matland so nahe, dass er äußerte, sich in ihr Land zu verlieben.

In Rezensionen und  Begründungen der Jurys der vielen Literaturpreise, die Peer Martin für sein mutiges Buch gewonnen hat, wird immer wieder die poetische Sprache des Bu­ches hervorgehoben. Mit diesem Text wollte ich dem Phänomen nachgehen und kann bestätigen, dass der Autor Peer Martin als fiktiver Erzähler eine zauberhaft poetische Sprache gefunden hat, mit der er vielperspektivisch die beiden Hauptfiguren seines Ro­mans  sowohl in der Außensicht als zum Teil auch aus ihrer Innensicht beschreibt.

Literatur:

Andreotti, M. (2014): Zur Struktur der modernen Literatur: neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik; mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen, Bern: Haupt (5. überarbeitete und ergänzte Aufl.) (1. Aufl. 1983)

Buchners Lektürebegleiter Deutsch (2016): Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, bearbeitet von Stefan Gora, Bamberg: C.C.Buchner Verlag

Hartmann, B. (2014): Mutismus. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie, Stutgart: Kohlhammer, (249-255)

Hoss, S. (2015): Interview mit Peer Martin am 09.03.2015 www.buecher-leben.de, (Abruf: 03.12.2016)                    

Schami, R. (2006): Die Frau die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde. München: Hanser Verlag

Schami, R. (1998): Vom Zauber der Zunge. Reden gegen das Verstummen, München: dtv

www.schinkel-gallerie.de.Berlin_Quadriga.html (Abruf 01.12.2016)

Weinrich, H. (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim u.a.: Dudenverlag

Zellerhoff, R  (2016): Komplexe sprachliche Formen in der Jugendliteratur. Aufgezeigt an Beispielen preisgekrönter Werke der Jugendjury des Deutschen Jugendliteratur­prei­ses, Frankfurt/M: Peter Lang Edition, Serie ZOOM, Bd. 6